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Mit dem Fahrrad ans Ende der Welt

Götz Nitsche radelte bis ans Ende der Welt, um zu sich selbst zu finden. Für uns hat er aufgeschrieben, wie er in Neuseeland sein persönliches »Bonusland« fand.

 

Die Straße, die seit der Abzweigung vom Highway One immer kleiner wurde, besteht auf den letzten Kilometern nur noch aus Schotter. Als sie schließlich endet, lehne ich mein Fahrrad an ein Schild und setze meine Reise zu Fuß fort. Ein paar Meter führt der Pfad die Böschung weiter hinauf, dann sehe ich das Ende vor mir: Ich habe Nugget Point erreicht, den letzten Leuchtturm im äußersten Südosten Neuseelands. Das Ende einer langen Reise.

Nachdenklich streiche ich mir über den inzwischen dicht gewordenen Bart. Ich begann diesen Abschnitt meiner Weltreise, als die Tage noch lang und die Nächte mild waren, in den weiten Ebenen des Waikato-Flusses auf der Nordinsel. Ich radelte über die Coromandel-Halbinsel und weiter zur Westküste. Dort fand ich einen versteckten Strand, der nur durch einen Tunnel zu erreichen war.

Wie das Bonuslevel eines Computerspiels kam er mir vor, wie eine geheime Welt, die nur von Eingeweihten betreten werden konnte. Und als ich so dort saß, ganz allein, und nach einem Bad im Meer den Sonnenuntergang betrachtete, drängte sich mir unweigerlich die Frage auf, wie es so weit kommen konnte. Weshalb reiste ich auf einem Fahrrad durch ein Land, das nicht weiter von meiner Heimat entfernt liegen könnte?

Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein Jahr lang dem Sommer um die Welt zu folgen. Ein bisschen surfen, ein bisschen tauchen, ein paar alte Ruinen und spannende Städte erforschen. Und nun war ich völlig allein am Ende der Welt gelandet. Meine Reisepläne hatten sich so lange selbst überworfen und verselbstständigt, bis ich schließlich in Neuseeland auf der Straße lebte.

Aber wenn ich schon mal hier war, dachte ich an jenem Abend in meinem Bonuslevel, dann konnte ich wenigstens weitere Erlebnisse sammeln wie diesen einsamen Strand. Dann konnte ich die Gelegenheit nutzen und so viele Häkchen auf meiner Bucket List setzen, wie es nur menschenmöglich war.

Ich fuhr hinauf in die Vulkanebene und wanderte allein durch den Krater des Tongariro-Vulkans. Ich trotzte dem Wind und dem Wahnsinn, als ich die Vulkanwüste ohne Wasser durchquerte. Ich erreichte Wellington und genoss die Überfahrt über die Cook-Straße auf die Südinsel. Am Abel Tasman Nationalpark ließ ich das Fahrrad zum ersten Mal für eine Weile stehen und wanderte tagelang durch die paradiesischen Buchten des Nationalparks.

Anschließend kämpfte ich mich über die Westküste hinunter bis in den Süden. In einem Mammutmarsch überquerte ich die Südalpen und sog die glitschige Luft des Fiordlands in mir auf. Und in den letzten paar Tagen fuhr ich mit dem Fahrrad über das karge Hochland von Otago und trotzte dem nahenden Winter in meiner Sommerkleidung.

Jeden Tag staunte ich aufs Neue über die Schönheit dieses Landes. Jede Landschaft, die man sich nur wünschen kann, wartet irgendwo in Neuseeland hinter einer Kurve. Und weil ich mit dem Fahrrad fuhr, weil ich mir jeden Meter mit der Kraft meiner Beine erarbeitete, erlebte ich jeden Meter dieser Reise so intensiv wie nichts zuvor in meinem Leben. So fand ich magische Orte, die mir als Pauschaltourist mit Sicherheit verborgen geblieben wären.

»Und nun bin ich endlich am Ziel – dem Ende der Welt.«

Es sind nur noch ein paar Hundert Meter bis zum Leuchtturm. Zu den Seiten fallen die Hänge steil hinab bis zum Meer. Seelöwen räkeln sich am Ufer oder jagen ein paar Fischen hinterher. Das Krächzen der Möwen dringt wie durch einen Schleier bis zu mir nach oben. Um den Leuchtturm herum ist der Busch gerodet und der Blick nach Süden liegt frei. Ein paar große runde Felsen liegen vor ihm im Wasser, als hätte ein Riese vergessen, seine Murmeln wegzuräumen. Ein Ehepaar kommt mir auf den letzten Metern entgegen, geht zurück zum Parkplatz, dann habe ich das Ende der Welt für mich allein.

Allein, denke ich und folge in Gedanken meinem Blick nach Süden. Es ist fast ein halbes Jahr her, seit ich von zu Hause aufgebrochen bin. Seit über zwei Monaten lebe ich nun auf den Straßen von Neuseeland. Manchmal rede ich tagelang mit keinem anderen Menschen, sodass ich heiser werde, wenn sich mal wieder ein Gespräch ergibt. Ich bin zwar allein  aber einsam fühle ich mich nicht.

Wie geht es weiter?

Weil ich weiß, dass ich diese Reise, dieses Abenteuer, nur halb so intensiv erleben würde, wäre ich in Gesellschaft. Weil ich über mich hinaus wuchs, als ich mein Gepäck wegen einer gebrochen Speiche 120 Kilometer auf dem Rücken tragen musste. Weil ich lernte, meine Scheu abzulegen, um fremde Menschen um Hilfe zu bitten. Weil ich überwältigt wurde, wie hilfsbereit fremde Menschen sein können. Weil ich begriff, dass alles, was man zum Leben braucht, auf den Gepäckträger eines Fahrrads passt. 

Weil ich schließlich einsah, dass all diese Häkchen, die ich auf meiner Bucket List setzte, kein glückliches Leben ausmachten, sondern die innere Einstellung entscheidend war. Und weil ich endlich mal die Zeit fand, meinen eigenen Gedanken zuzuhören. Und diese Gedanken führen mich nun zurück zu der ursprünglichen Frage: Wie geht es nun eigentlich weiter?

Ich traf auf dieser Reise auf viele inspirierende Menschen. Da war dieser alte Herr, den ich in der Nähe des Bonuslevels traf. »Friedlich hier, nicht wahr?«, sagte er, als ich an ihm vorüber fuhr. Und das war es, sowohl in jenem Tal als auch in seinem Herzen. Er lud mich zu einer Tasse Tee ein und erzählte, dass er zwar kurz vor der Pension als Lehrer stand, aber beschlossen hatte, mit der Zucht junger Bullen nochmal neu anzufangen. Nach dem Gespräch war ich ein anderer Mensch.

Prioritätenliste vs. Bucket List

Dann war da dieser Handwerker, der mich am Telefon in sein Haus einlud, obwohl er selbst gar nicht zu Hause war. Als ich ihn später kennenlernte, traf ich auf einen Menschen, dessen strahlende Augen mehr über eine gesunde Work-Life-Balance erzählten als hundert Bücher und Vorträge. Er war Dachdecker, arbeitete aber gerade genug, um seine Surfkajaks zu finanzieren, und verbrachte die meiste Zeit am Strand.

Im Abel Tasman Park lud mich ein Herr auf eine Bootstour ein, bloß weil ich ihm kurz zur Hand gegangen war, und bewies mir ganz nebenbei, wie relativ die Zeit ist. Und im Herzen der Südinsel traf ich einen jungen Kerl, der sich ein Stück Land gekauft und darauf einen traumhaften Garten angelegt hatte. Er hatte damit angefangen, ein Haus auf dem Grundstück zu errichten. Seine Prioritätenliste sah bisher allerdings erst einmal nicht vor, eine vierte Wand für das Haus zu bauen. Spätestens an dieser Stelle begann ich, meine eigene Prioritätenliste zu hinterfragen.

Und dann war da noch dieser Radwanderer, mit dem ich eine Weile fuhr – ein Ingenieur, der eine derartige Leidenschaft für seinen Beruf mitbrachte, dass er selbst im Urlaub alles reparierte, was ihm in die Finger kam. Und genau da liegt das Problem: Wenn ich nach Hause zurückkehre, werde ich Ingenieur sein. Aber will ich das überhaupt? Ich habe inzwischen so viele Eindrücke gesammelt, so viele Lebensentwürfe kennengelernt, dass ich mir da nicht mehr so sicher bin.

3.000 Kilometer bin ich inzwischen geradelt. Das ist mehr als die Entfernung von hier bis zur Antarktis. Versonnen spaziere ich um den Leuchtturm herum und stütze mich auf das Geländer. Ich blicke hinab zu den Felsen im Meer, beobachte, wie die Wellen des kalten Polarmeeres gegen sie klatschen, lausche dem Spiel der Möwen und Seelöwen, sauge die klare Luft und diesen Moment in mir auf.

Mein Blick richtet sich wie gebannt über die glitzernden Wellkämme nach Süden. Irgendwo dort, hinter dem Horizont, warten Eisberge und Pinguine. Ich könnte gerade ebenso gut dort sein, hätte ich die letzten 3.000 Kilometer anders gestaltet. Oder aber nach den nächsten 3.000 Kilometern.

»Wenn man das Ende der Welt erreicht hat, stellt sich unweigerlich die Frage: Wie geht es von hier aus weiter?«

Anfang statt Ende

Ich könnte mich der Besatzung einer Expedition anschließen, denke ich für einen Moment, bis mir wieder einfällt, wie schnell ich seekrank werde. Andererseits, denke ich dann, könnte ich ebenso gut in einem Flugzeug nach Hause sitzen, um endlich das richtige Leben zu beginnen. Aber einen Flughafen gibt es hier weit und breit nicht, geschweige denn einen Hafen. Es gibt nicht mal einen Bus.

So einfach ist es also nicht. Soll es auch nicht sein. Das wird mir plötzlich klar. Ein letztes Mal sauge ich die Luft tief in meine Lungen, halte inne, auf dass ich diesen Moment niemals vergesse. Denn in diesem Augenblick habe ich etwas begriffen.

Ich stehe nicht am Ende der Welt, sondern am Anfang meines Lebens. Und ich muss mich heute noch nicht entscheiden, wie ich es führen werde. Die Reise zurück in meine Heimat wird mich noch um den halben Globus führen. Mir stehen alle Möglichkeiten offen – die Welt steht mir offen. Die Frage bleibt also die gleiche, doch mit einem Mal weicht meine Sorge einer unglaublichen Vorfreude:

Wie geht es von hier aus weiter? Wir werden sehen ...


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Der Autor

Götz Nitsche

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