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»Chinakinder«: Eine Recherche zwischen Zensur und Überwachung

Chinas Regierung arbeitet zurzeit an einer Art Online-Ranking-System, mit dem die Behörden schon bald in der Lage sein könnten, alle Bürger nach ihrem Verhalten zu bewerten. Wie findet man in diesem Land und unter solchen Umständen Interviewpartner, die bereit sind, sich offen und kritisch zu äußern? Sonja Maaß und Jörg Endriss berichten über ihre Recherchen für »Chinakinder – moderne Rebellen in einer alten Welt«.

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Am Ende hatten sie sich doch noch gemeldet. Wir waren schon auf dem Weg zum Bahnhof, um Luoyang zu verlassen, eine mittelgroße Stadt in der Provinz Henan, weit ab von den hochentwickelten Metropolen der Ostküste. Auf einmal ploppte auf unserem Handy eine Nachricht auf – von den Jugendlichen, die wir am Vortag kurz auf dem Nachtmarkt getroffen hatten. Natürlich würden sie sich gerne interviewen lassen, gerne auch sofort. »Wir sind halt gerade beim Friseur, aber das macht nichts. Kommt einfach vorbei.«

 

Kurz darauf standen die beiden Jungs Liu Xiao und Xu Jiale vor uns: Mit Plastikfolie auf dem Kopf. »Wir lassen gerade Dauerwellen machen«, murmelte Xiao, »unser Geschmack – nicht unbedingt die große Modewelle im Moment.« Wir hatten die beiden am Vortag zusammen mit der jungen Xing Zewei getroffen. Die drei waren noch keine 18, aber boten auf dem Nachtmarkt aufgemalte »Tätowierungen« an - sehr beliebt bei den Nachtschwärmern. Sie waren als Team unterwegs – dabei scheuchte die 16-jährige Zewei die beiden Jungs herum. Der Nachtmarktstand war ihr Stück Freiheit. Tagsüber besuchten sie eine Art Berufsschulinternat, wie viele junge Chinesen, die es nach der Mittelschule nicht in die Oberstufe schaffen – und damit nicht die besten Karriereaussichten haben.

Zukunftstraum: Die chinesische Provinz verlassen

So waren die drei in einer Ausbildungsstätte für Kindergärtner gelandet – auch wenn sie der Beruf eigentlich nicht besonders interessierte. Zewei hatte noch die deutlichste Vorstellung von ihren Zukunftsträumen: China verlassen und nach Südkorea – und dort am besten einen Mann finden und heiraten. »Die Musik dort, die Mode, die Popkultur, die Schrift – alles sehr cool«, meinte sie. Dass es zwischen Peking und Seoul immer wieder Spannungen gibt, spielt da keine Rolle.

Oft werden wir auf Lesungen gefragt, wie wir die Interviewpartner für unser Buch Chinakinder gesucht und gefunden haben – zumal sich viele offen und auch kritisch äußerten. Begegnungen wie in Luoyang machten einen guten Teil der Gespräche aus. Wir sprachen junge Leute an, die für eine bestimmte Alters- oder soziale Gruppe standen. Meistens redeten sie sehr offen über alles – auch über politische Fragen, wie etwa Duorou, die Tibet-Reisende in unserem Buch, oder die junge Aktivistin für Frauenrechte Coby.

Anfangs hatten wir gehofft, dass uns NGOs oder Universitäten Gesprächspartner vermitteln würden. Doch dieser Weg stellte sich in den meisten Fällen als Sackgasse heraus

Erschwerte Bedingungen für ausländische Journalisten

»Sehr gerne helfen wir weiter«, hieß es oft von Organisationen. »Aber leider ist ein anderes Regionalbüro dafür zuständig«. Am Ende landeten wir mit unserer Anfrage wieder in der Zentrale. Irgendwann wurde uns hinter vorgehaltener Hand klar gemacht, dass man derzeit lieber nicht mit ausländischen Journalisten zusammenarbeite, weil man Konsequenzen von Seiten der Regierung fürchte.

Einzelne Mitglieder einiger weniger Organisationen waren dann doch bereit mit uns zu sprechen – allerdings als Privatperson, ohne sich offiziell als Vermittler von Gesprächspartnern einzuschalten. Ihre Einschätzungen waren trotzdem wertvoll für uns, die Treffen fast ein wenig konspirativ.

Einige Kontakte wurden auch von Freunden und Bekannten und wiederum deren Freunden vermittelt. Persönliche Netzwerke sind in China sehr wichtig. Wer einmal das Vertrauen von jemandem bekommen hat, dem wird immer wieder weitergeholfen. Manchmal gingen allerdings einem Interview lange Vortreffen voraus.

Ganz förmlich lief zunächst alles ab, als ein Bekannter uns von einem Kontakt zu jungen Leuten erzählte, die sich gegen den Trend, das Landleben aufzugeben, entschieden hatten und in ihrem Dorf blieben. Allerdings kannte er die beiden nicht selbst, sondern über einen Geschäftspartner.

Wir trafen uns im Séparée eines Restaurants. Unser Freund stellte uns vor, dann hielt der Geschäftspartner eine kleine Ansprache – und verkündete, dass nun Reisschnaps getrunken werde. Und er machte gleich die Regeln klar. Jeder bekam einen Partner zum Anstoßen – und jedes Mal wurde angesagt, um wie viel das Glas geleert werden müsse.

Noch bevor sich der Schleier aus Reisschnaps über die Gespräche legte, wurde klar, dass die beiden jungen Chinesen uns in ihrem Dorf empfangen würden – aber den älteren Chinesen war die erste förmliche Begegnung sehr wichtig.

Internetartikel, Blogs und Zeitungen waren außerdem wichtige Quellen für Gesprächspartner. In wenigen Fällen griffen wir auf die Hilfe chinesischer Journalistenkollegen zurück, die bereits gute Kontakte hatten – etwa in die Szene junger Unternehmer.

Leichter Zugriff für Behörden

Wurden wir überwacht? Wahrscheinlich. Facebook, Google und Co. können bereits viel über ihre Nutzer herausfinden. Und noch viel mehr wissen die chinesischen Behörden über die Bürger ihres Landes. Ohne Smartphone und die Kommunikations-App WeChat war es kaum möglich, jemanden zu kontaktieren. Das Handy war immer dabei – und für die Behörden ist es ein leichtes, das Bewegungsprofil nachzuvollziehen.

Wurden wir überwacht? Wahrscheinlich.

Direkte Einschränkungen haben wir nicht erlebt. Allerdings ist es normalerweise kein Problem sich in privaten Rahmen kritisch zu äußern, solange es keine größere Öffentlichkeit in China erreicht.

Überwachung und Zensur nehmen dennoch stetig zu. Wer kleine Chatgruppen leitet, kann mittlerweile auch für die Äußerungen der Mitglieder zur Verantwortung gezogen werden.

Und in den kommenden Jahren könnte jeder Bürger mit einem Internet-Rating erfasst werden, bei dem es auch Punkte oder Abzüge für politische Äußerungen gibt. Ob diese Pläne wirklich umgesetzt werden, ist noch nicht klar. Künftige Recherchen in China dürften dadurch allerdings schwieriger werden.


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