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Deutschland 151

Prolog

Im November 2021 erscheint Marcus S. Kleiners neues Buch Deutschland 151. In seinem Vorwort hat der Medienexperte aufgeschrieben, warum Geschichten über Deutschland auch immer Popkulturgeschichten sind …

 

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Seit 48 Jahren lebe ich in Deutschland. Am 28. Juli 1973 wurde ich am Niederrhein geboren, in der kleinen Stadt Willich im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Willich ist durch und durch provinzielle Romantik: ein paar nostalgisch-schöne historische Gebäude und Plätze treffen auf kleine, verschlafene und sehr saubere Straßen, die aus der Stadt hinaus in die blühende Natur führen und auf denen nach 22 Uhr kaum noch etwas los ist. Eine Kleinstadt, die von ganz viel Natur umrahmt ist, in der das Leben nicht besonders hektisch ist, in der man sich kennt und die Pflege der Dorfgemeinschaft ein Grundwert für alle Einwohner ist. Ein Rückzugsort und Schutzraum vor dem Getöse der Welt.

Das kulturelle Aushängeschild der Stadt Willich sind bis heute die Schlossfestspiele Neersen, die im idyllischen Schlosspark stattfinden und professionelles Freilichttheater vor historischer Kulisse präsentieren. Kein Wunder, wir sind im Land der Dichter und Denker und international bekannt für unsere Theaterkultur, auch wenn diese Wertschätzung heutzutage immer weniger wird.

Was aber im Unterschied hierzu in Deutschland niemals weniger wird, ist unsere Liebe zur Bürokratie und zur Amtssprache. In der deutschen Amtssprache nennt man die Region, in der ich aufgewachsen bin, Ballungsrandgebiet im Städte-Dreieck Düsseldorf-Mönchengladbach-Krefeld. Unsere Amtssprache ist wirklich typisch deutsch. Sie verdeutlicht unsere Lust an der Verkomplexisierung der Welt.

Genauso typisch deutsch sind unsere vermeintlichen Tugenden, für die wir außerhalb von Deutschland berühmt-berüchtigt sind: Fleiß, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Sparsamkeit oder Zuverlässigkeit, um nur einige wenige hier zu nennen. Über Tugenden können Sie in meinem Buch viel lesen, sich darüber amüsieren oder ärgern, aber bitte nicht zu sehr.

Zwei dieser Tugenden sind Disziplin und Leistungsbereitschaft. Darauf sattelt zum Beispiel der Sport auf. Apropos Sport: An meinem Geburtstag fand die Eröffnung der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin statt. Der Sport war das Einzige, was in der Deutschen Demokratischen Republik, dem Staat der Arbeiter und Bauern, als Wettkampfgedanke zugelassen war. Ansonsten war der Osten stolz auf seine Planwirtschaft, den Sozialismus und die Solidarität, die er gegen den Westen stellte.

Von der Eröffnung der Weltfestspiele der Jugend habe ich am 28. Juli nichts mitbekommen. Als heutiger Spätaufsteher musste ich bei meiner Geburt um 09:28 Uhr erst mal klarkommen. Wurden die Weltspiele eigentlich im westdeutschen Fernsehen übertragen? 1973 war das deutsche Fernsehprogramm noch sehr dürftig, ganz im Unterschied etwa zu den USA. Und unser gegenwärtiges Streamland lag noch in weiter Zukunft.

Deutschland war damals geteilt und zeichnete sich durch ein großes deutsch-deutsches Misstrauen aus, das bis 1989 konstant zu eskalieren drohte. Finden Sie, dass das heute wirklich anders geworden ist? Werden nicht gerade heute viele der politischen Probleme in Deutschland dem Osten in die Schuhe geschoben? Wie erleben Sie unser Zusammenleben nach zweiunddreißig Jahren Wiedervereinigung und der Überwindung der Ostalgie?

Ich bin ein Kind beider Welten. Mein Vater wurde 1935 in der industriell und landwirtschaftlich geprägten Kleinstadt Sömmerda, die in Thüringen in der Nähe von Erfurt liegt, geboren und flüchtete mit seinen Eltern in den 1960er Jahren nach Westdeutschland. Sömmerda war wie die Provinz Willich im Westen. Mit ihm und meinen Großeltern habe ich viel über die deutsch-deutschen Beziehungen gesprochen. Meine Großeltern sind nie wirklich im Westen angekommen. Mein Vater hat meine Mutter kennengelernt. In Düsseldorf. Eine glücklichere Geschichte, ohne die ich keine Geschichten zu erzählen hätte. Deutschland 151 ist biografisch gefärbt. Es ist ein persönlicher Blick auf unser Land, der aber nicht beim Persönlichen stehen bleibt.

Auf dem Land gibt es die Dorfdisco: in Scheunen, Zelten oder in den Sälen der Dorfkneipen. Willich und Sömmerda sind aber auch als Orte wie eine Dorfdisco. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass in dem gleichen Land eine Stadt wie Berlin existiert. Eine Stadt, in der Nina Hagen, die erste deutsche Punksängerin, die aus dem Osten stammte und ihren musikalischen Durchbruch im Westen mit »Standort West-Berlin« feierte, 1978, kurz vor meiner Einschulung im Jahr 1979, in die Republik schrie: »Alles so schön bunt hier!« Und damit auch international Gehör fand.

Aufgenommen wurde der Song im berühmten Berliner Hansa-Tonstudio in Kreuzberg. Hier haben sich, anders als in Willich oder Sömmerda, echte Weltstars die Klinke in die berühmten Hände gedrückt: David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop, Nick Cave and the Bad Seeds, Boney M., R.E.M. und so viele mehr. David Bowie startete hier 1977 mit der Platte Low seine berühmte Berlin-Trilogie. Er war ein Künstler, der schon lange bevor der Begriff überhaupt existierte, queer lebte und queere Kunst machte. Heute ist Berlin das queere Aushängeschild unseres Landes.

Berlin ist die Hauptstadt der deutschen Popkultur und des internationalen Partytourismus, denken zumindest die Berliner und tanzen dabei weiter im Techno-Über-Club Berghain, der immer wieder zum besten Club der Welt gewählt wurde. Chapeau! Zeit seines Bestehens ist das Berghain ein Resonanzraum für die queeren Kulturen des Landes, in dem die Ideen von Freiheit und Gleichberechtigung bei jedem Besuch unmittelbar lebbar und erlebbar sind. Mit großem internationalem Erfolg. Das Berghain ist einer der popkulturellen deutschen Sehnsuchtsorte, so wie es Ende der 1970er Jahre der Ratinger Hof in der Düsseldorfer Altstadt für die Punkkulturen einer war. Die Deutschen und ihre Popkultur, das ist eine durch und durch ambivalente Geschichte, wie auch alle anderen deutschen Geschichten. Nur wenig der deutschen Popkulturen ist international anschlussfähig, wenngleich viele Popstars denken, sie seien in Deutschland weltberühmt. Ich werde Ihnen einige dieser ambivalenten Popgeschichten erzählen.

Geschichten über Deutschland sind also immer auch Medien- und Popkulturgeschichten. Mein Buch ist daher voll mit Medien- und Popkulturgeschichten, denn Medien und Popkultur prägen unsere Sicht auf die Welt und auf uns selbst. Sie sind Biografiegestalter. Und die deutsche Medien- und Popgeschichte hat sich in uns alle eingeschrieben, bevor wir uns – etwa im Subkulturleben oder durch die Erfolgsgeschichte der sozialen Medien – zu unseren Zeiten in diese Medien- und Popkulturwelt eingeschrieben haben.

Medial eingeschrieben haben mich meine Eltern zum ersten Mal in den Sommermonaten des Jahres 1973 auf Fotografien. Mir hat die brütende Hitze überhaupt nicht gefallen. Übermäßige Hitze mag ich bis heute nicht. Heiße Regionen sind daher auch nicht meine Lieblingsreiseziele. Diese Bilder sind in den privaten Familienalben gelandet, die heute so nostalgisch-schön vergilbt sind und bei Diaabenden den Freunden und Nachbarn gezeigt wurden. Besonders beliebt waren in den 1970ern die Super-8-Filme. Alles Spuren eines weit entfernten Lebens und einer anderen Medienzeit. Wäre ich heute Kind, dann hätten meine Eltern die Kinder- und Urlaubsbilder bestimmt auf Instagram gepostet, und als Musik hätte meine Mutter vielleicht Bowie in den Storys erklingen lassen. Aber auch in den sozialen Netzwerken der Gegenwart steht Nostalgie hoch im Kurs. Es gibt so viele Filter, die es allen Nutzern ganz leicht ermöglichen, ihre Bilder und Videos mit einem Retro-Look auszustatten.

Auf den ersten Kinderfotografien war mein Kopf daher immer hochrot und ich nur leicht bekleidet. Vielleicht war ich aber auch nur oft wütend. Wir Deutschen sollen bekanntlich häufig wütend und missmutig sein. Humor ist nicht unsere Kernkompetenz, und mit Satire können wir mittlerweile auch internationale Krisen auslösen, die keine Lachnummern mehr sind. Gut, der Humor soll keine deutsche Kernkompetenz sein, die Mode aber auch nicht. Das deutete schon mein erstes Sommeroutfit in den unvorteilhaften kurzen Hosen und mit Söckchen an den Füßen an, auch wenn das wahrscheinlich funktional war und meine Eltern mich damit bestimmt nicht ärgern wollten.

»Es gibt so viele Geschichten über Deutschland und die Deutschen zu erzählen. Ich kann sie nicht alle erzählen, aber ich kann 151 persönliche und momenthafte Geschichten über Deutschland erzählen – von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart.«

Es war ein besonders heißer Sommer, der uns im Juli und August 1973 zu schaffen machte. Ein Jahrhundertsommer. Das hat uns Deutsche aber nicht davon abgehalten, auch in diesem Sommer vor dem Gewinn der zweiten Fußballweltmeisterschaft 1974 wieder als Urlaubsweltmeister etwa mit dem Auto auf dem Brenner Richtung Italien zu reisen. Urlaubsweltmeister sind wir bis heute. Wir lieben es, zu reisen. Beim Reisen sind wir aber leider keine Modeweltmeister. Wer von Ihnen trägt nicht gerne im Urlaub Sandalen und Socken oder Funktionsjacken, und wer von Ihnen hat sich gleichzeitig darüber nicht schon genauso oft amüsiert? Vielleicht sind meine Eltern 1973 auch gar nicht mit mir verreist, sondern auf Balkonien geblieben und haben einfach jeden Abend angegrillt. Die Deutschen und ihre brennende Leidenschaft für das Zuhausebleiben, den Balkon, das Grillen, das Eigenheim und die Gartenlaube – auch das ist eine Geschichte, von der ich Ihnen erzählen möchte.

Trotz aller Reisemobilität war das Jahr 1973 die Blaupause für das Entstehen eines neuen ökologischen Bewusstseins: Wir alle haben eine Verantwortung, knappe Ressourcen zu schonen und die Umwelt zu schützen. Vielleicht erinnern sich noch einige von Ihnen an den 25. November? Dieser Tag ist als der erste autofreie Sonntag in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen und war eine politische Reaktion auf die Ölkrise. Auf den Straßen und Autobahnen herrschte gähnende Leere und eine ungewöhnliche Stille. Erstmals in der Geschichte unseres Landes gab es ein bundesweites Fahrverbot. Das war bestimmt nicht für jeden der knapp dreizehn Millionen Autobesitzer ein Grund zur Freude. Wäre ich heute ein Kind, würde ich wahrscheinlich bei Fridays for Future mitlaufen und mich für den Klimaschutz engagieren. Heute gibt es aber, trotz Fridays for Future, keinen autofreien Tag mehr. Und der Weg der jungen Protestierenden ist so manches Mal mit Franchise-Kaffeebechern gepflastert. Deutschland war schon immer ein widersprüchliches und vieldeutiges Land, das einfach nicht zu fassen ist. Ich möchte mit meinem Buch ein Bewusstsein hierfür schaffen.

Das Jahr 1973 ging für mich aber dennoch entspannt zu Ende. Ich habe den Jahreswechsel, wie meine Eltern mir berichteten, schlicht verpennt und sollte im neuen Jahr zu früh für sie aufwachen. Sie haben Silvester mit Freunden gefeiert. Es gab Bier, Bowle und Böller. Meine Eltern waren sich wie immer bei der Musikfrage nicht einig: Mein Vater wollte Schlager- und Volksmusik hören, meine Mutter zu den aktuellen Pop-Hits tanzen. Ganz hoch im Kurs stand bei ihr zu dieser Zeit der Song Hell Raiser der britischen Rockband The Sweet, der in meiner Geburtswoche der Nummer-eins-Hit in Deutschland war. Vielleicht nimmt meine bis heute anhaltende Liebe zu den unterschiedlichen Spielarten des Rock ’n’ Roll und mein Aufwachsen in den unterschiedlichen Rock-Subkulturen – vor allem waren das Heavy Metal, Psycho- und Rockabilly – hier ihren Ausgang.

Kurz vor Mitternacht sind dann alle schunkelnd und Arm in Arm vor die Tür gegangen und haben das neue Jahr ökologisch sorglos mit vielen Böllern begrüßt. Die Raketen, die sie in die Luft gejagt haben, haben die kleinen Dorfstraßen, die Bauernhöfe, die Felder und niederrheinischen Weiden erhellt. Das muss idyllisch gewesen sein. Es gibt auch noch ein paar Fotos von diesem Abend, die ich mir immer wieder gerne mit einem nostalgischen Schaudern anschaue. Irgendwann habe ich aufgehört, den Jahreswechsel zu verschlafen. Immerhin vergibt Willich, heute ein Teil der Bio-Region Niederrhein, mittlerweile einen Nachhaltigkeitspreis zur Steigerung ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit. Ich begrüße das neue Jahr nicht mit einem herzhaften Böllerreigen, sondern immer wieder mit dem Song Hells Bells der australischen Hardrocker AC/DC. Das klingt für meine Mutter heute aber schlimmer als das Böllern in den ersten Momenten des Jahres 1974.

Sie merken, es gibt viele Geschichten über Deutschland und die Deutschen zu erzählen. Ich kann sie nicht alle erzählen, aber ich kann 151 persönliche und momenthafte Eindrücke von Deutschland aufschreiben – von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart, in kurzen kantigen Texten und mit ausdrucksstarken Bildern. Darauf freue ich mich, und ich finde es großartig, wenn Sie mich dabei begleiten.

 

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Weiterlesen? Hier geht es zu Deutschland 151. Porträt eines bekannten Landes in 151 Momentaufnahmen von Marcus S. Kleiner.


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Der Autor

Prof. Dr. Marcus S. Kleiner

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