Reisen als Droge
Im September 2021 erscheint Nick Martins neues Buch Die geilste Lücke im Lebenslauf – Die dunkle Seite. Darin verrät er, was nicht so geil war in zehn Jahren Weltreisen … und warum das Reisen ihn süchtig macht.
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Ich sage öfter: »Reisen ist die beste Droge, die es gibt.« Wenn du einmal damit anfängst und den sogenannten »Travelbug« bekommst, kannst du sehr schnell abhängig werden. Du beginnst, diesen Lifestyle zu lieben, genauso wie die Menschen, denen es auch so geht. Das für mich absolut Großartigste am Reisen ist, dass du unwahrscheinlich schnell mit anderen Menschen in Kontakt kommst und dich sofort mit ihnen austauschst. Man lernt voneinander und inspiriert sich gegenseitig. Die Schwelle, anderen Menschen wirklich zu begegnen, ist so niedrig wie eine Limbostange in der Endrunde. Beim Reisen ist es, als wärst du auf einer Party, wo alle gut drauf sind und miteinander feiern – egal ob man sich vorher kannte oder nicht. Man hat einfach diese eine große Gemeinsamkeit.
Doch wo Partys sind, gibt es meist auch Drogen – und beim Thema Reisen ist das Reisen die Droge selbst. Du gerätst schnell in diesen Flow-Zustand, bei dem dir die Sonne aus dem Hintern strahlt, du die ganze Welt umarmen möchtest und dein Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekommst. Du gehst surfen, snowboarden, jagst die Abenteuer, lebst am Limit, bis dein Herz so laut pocht, dass alles in dir rast, dir die Haare zu Berge stehen und du am liebsten ganz laut brüllen würdest: »Hell yeah! What a ride!«.
Merkst du was? Genau: Klingt ganz schön nach einem ziemlichen High-Moment. Und wie das mit dem Highsein so ist: Du willst es immer und immer und immer wieder haben. Anfangs bekommst du das Gefühl, wenn du mit in einem Van zu einem Roadtrip startest, die Fenster runterkurbelst und die Musik laut aufdrehst. Was für ein Freiheitsgefühl! Dann ist es eine besonders hohe Welle, die du surfst. Beim nächsten Mal muss die Welle schon größer sein. Sobald du von einem Hoch wieder runterkommst, suchst du auch schon wieder das nächste. Dann soll es schneller gehen, größer werden, verrückter sein. Manchmal halte ich dann inne und frage mich: »Sag mal, Nick, ist das eigentlich noch gesund?«

Ich bin nicht der einzige Abenteuer-Junkie, dem es so geht. Ich kenne sogar eine Menge. Man sitzt dann zu Hause und bekommt schon nach einigen Tagen wieder die krassesten Hummeln im Hintern. Man denkt: »Ey, vor einem halben Jahr war ich noch in Australien und habe surfen gelernt.« Oder: »Gerade erst war ich mitten in Indonesien auf einer Bootstour – und jetzt sitze ich hier am Schreibtisch.« Es ist fast egal, welche Reiseerfahrung da auf der Liste steht: Sobald man zu Hause ist, fängt man schon wieder an, das nächste Abenteuer zu planen. Man bekommt einfach nicht mehr genug davon.
Dagegen ist prinzipiell überhaupt nichts einzuwenden. Wenn du etwas gefunden hast, was du liebst, verdammt, dann mach das! Aber die Frage ist: Gibt es hierbei ein Maß, das voll werden kann? Treibt man sich irgendwann so weit, dass das Fass überläuft? Ich weiß es nicht. Aber ich denke immer mal wieder daran. Definitiv bin ich schon in solche Aufwärtsspiralen geraten, bei denen alles immer krasser und krasser werden musste: Der letzte Roadtrip war so geil, der nächste muss das noch toppen! Bei der nächsten Reise funktioniert es vielleicht noch mit viel weniger Gepäck! Der nächste Berg muss noch steilere Abhänge haben! Oder mal ohne Sicherungsseil? Die nächste Dschungeltour vielleicht mal ganz ohne Guide! Die nächste Welle muss sich noch viel weiter in den Himmel türmen! Mich hat es zwar beim letzten Mal fast um die Klippen gewickelt, aber egal: Ich hab es ja überlebt!
Irgendwann bist du einfach nur noch getrieben vom nächsten High. Dadurch, dass ja bisher auch immer alles gutgegangen ist, verlierst du dann schnell ein bisschen den Wisch zur Realität. Ist das dann noch Abenteuer – oder eher leichtsinnig bis lebensgefährlich? Wo ist die Grenze? Und wenn es eine gibt: Bist du in diesem Zustand überhaupt noch in der Lage, sie zu erkennen?

Anders als zum Beispiel bei Drogen gibt es kein Regelwerk, das dir sagt: Ja, das ist gefährlich, aber ab hier schadest du dir extrem. Es gibt keine Ärzte, die dir Blut abnehmen und sagen: »Herr Martin, der Reisewert in Ihrem Blut ist sehr stark erhöht, Sie sollten jetzt gesünder essen, Sport machen und etwas kürzer treten, sonst droht ein Herzinfarkt.« Der Einzige, der abschätzen kann, was dir guttut und was vielleicht nicht mehr, bist du selbst. Aber sag das mal jemandem, der abhängig ist. Alles, was dir bleibt, ist jederzeit die Verantwortung für dein eigenes Leben zu übernehmen. Was man ja grundsätzlich tun sollte. Doch schwierig ist hier, dass du wenig Orientierung hast, um das selber abschätzen zu können. Du kannst zwar deine Freunde und Familie zu Hause anrufen und sie fragen, aber sie leben einen ganz anderen Lifestyle und werden dir nicht wirklich helfen können. Mit anderen Reisenden kannst du dich natürlich besser austauschen, aber jetzt mal im Extrem gesprochen: Ein Ertrinkender kann einen anderen Ertrinkenden auch nicht retten. Du brauchst also gute Schwimmer um dich herum, oder du machst das Ganze wirklich nur mit dir selbst aus.
»Sobald der Flow kommt – ich sag’s dir – wirst du einfach leichtsinnig. Dann hast du Blut geleckt und willst immer mehr und größer und weiter und verrückter.«
Egal ob du jeden Tag im Jahr unterwegs bist oder deine fünf Wochen Jahresurlaub in vollen Zügen genießt, nirgendwo steht geschrieben, wie viel Reisen eigentlich gut ist. Was ja auch toll ist, denn das gibt dir die Zügel in die Hand. Du kannst die Regeln selbst bestimmen. Wenn man noch nicht viel Reiseerfahrung hat, ist es natürlich schwer, da etwas zu definieren. Aber mit den Erlebnissen kommt auch die Erkenntnis – im besten Fall. Denn mal ehrlich: Wer definiert eigentlich, was in Bezug auf das Reisen richtig oder falsch ist? Niemand. Nur du allein kannst bewerten, was dir guttut und was nicht. Genau deshalb ist es wichtig, immer achtsam und bei dir selbst zu bleiben, denn sobald der Flow kommt – ich sag’s dir – wirst du einfach leichtsinnig. Dann hast du Blut geleckt und willst immer mehr und größer und weiter und verrückter.

Bei mir hat sich die Reisedroge, die ich so liebe, schon echt weit in meine DNA gefressen. Ich habe Bekannte und Freunde, die fahren drei Wochen in den Urlaub, genießen das auch total, aber bekommen spätestens nach zwei Wochen wieder Heimweh. Nur um das klarzustellen: Das ist nichts Negatives, und ich bewerte das auch nicht so. Dann fallen Sätze wie: »Ich freu mich auch schon wieder auf zu Hause!« Oder: »Wenn wir wieder da sind, dann gibt es erst mal ein schönes Schnitzel wie von Muttern!« Sie vermissen einfach ihren Alltag, ihre Freunde, das geregelte Leben. Dieses Gefühl kenne ich gar nicht mehr. Es ist sogar umgekehrt: Wenn ich zu Hause bin, denke ich an all die Orte, an denen ich war – und will zurück in die Welt. Durch das Reisen habe ich mich diesbezüglich in eine komplett andere Richtung entwickelt und lebe wie in einer anderen Realität. Manchmal kann ich selbst gar nicht fassen, was für ein Leben ich lebe. Ich für mich denke: »Eigentlich mache ich das genau richtig.«
Andere denken dasselbe über ihr Leben. Ich aber habe von diesem Apfel gebissen und kann nicht mehr zurück. Ich stelle mir manchmal vor, dass sich jemand, der einen Sechser im Lotto hatte, ständig fragt: »Ist das wirklich wahr? Das fühlt sich alles so surreal an!« Mir geht es sehr oft so, ganz ohne Lottogewinn. Ich kann mich gar nicht so viel kneifen, wie ich manchmal ganz für mich allein mein Leben feiere. Und warum? Weil ich das tue, was ich liebe. Doch ich kenne mich, und ich bin ein Grenzgänger, seit ich auf die Welt geplumpst bin. Manchmal erlebe ich Dinge, bei denen ich überlege, ob die mir überhaupt jemand glaubt. Dann frage ich mich: »Muss ich das überhaupt irgendjemandem glaubhaft machen? Oder sollte ich das nicht besser als für mich als absolut wildes Erlebnis abhaken und weitermachen?«
Doch wenn es zu wild wird, und jetzt schließen wir den Kreis zum Reisedrogenrausch, höre ich mittlerweile auf die kleine Bimmel in mir drin, die sagt: »Puh, Glück gehabt! Da bin ich ja noch mal dem Tod von der Schippe gesprungen. Jetzt mal Kupplung treten und ein, zwei Gänge runterschalten.« Mein Rat deshalb: Schreib deine eigenen Regeln, passe sie immer wieder an deine Erfahrungen an, aber: Hör auch auf deine Bimmel.
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Der Autor
Nick Martin
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