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Zurück nach Ostfriesland?

Sylvie Gühmann beschäftigt sich in Die junge Frau und das Meer mit Ihrer Heimat Ostfriesland – und fragt sich, ob sie dahin zurückwill.

 

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Ob ich einmal nach Ostfriesland zurückwill? Ich weiß es nicht. Ostfriesland ist der Ort meiner Jugend. Hier gibt es kaum etwas, das mir begegnet, bei dem ich nichts fühle. In manchen Momenten habe ich meine Heimat gehasst. In manchen habe ich sie geliebt. Nirgendwo war ich so verliebt, nirgendwo so verletzt, nirgendwo so verloren, und nirgendwo finde ich so sehr zu mir zurück.

Denn wenn ich nachts nach einer langen Nacht nach Hause komme, wenn die Abgase des Tages noch in der Großstadtluft liegen, der Geruch von Urin und Kanalisation in meine Nase steigt, wenn ich den Kopf in den Nacken legen will, um die Sterne zu zählen, weil es das ist, was mich in der Nacht weniger einsam fühlen lässt, und wenn ich stattdessen in mattes Orange und Grau blicke, einen lichtverschmutzten Großstadthimmel, gibt es nur eine mögliche Antwort: Dann zieht das Heimweh an mir, als schlinge sich ein unsichtbares Tau um meinen Rumpf. Dann fehlt mir die Luft und die Erde, die durch den Regen schöner werden, dann fehlen mir die Deiche und ihre Weichheit, ihre weibliche Form, die sich scheinbar nebensächlich und mütterlich den Gezeiten entgegenstemmt, nur damit wir Menschen hinter ihnen leben können. Mir fehlt das kalkarme Wasser für meinen morgendlichen Tee. Manchmal, da fehlt mir sogar die Gülle, die einzige Art von Scheiße, die für mich gut riechen kann.

Doch vor allem fehlt mir die Weite, die unendliche Weite, die dafür sorgt, dass sich meine Brust weniger zuschnürt, wenn einmal alles zu viel wird, wenn meine Lungen zu klein scheinen für das da draußen und ich all die Wucht des Nichts einsaugen kann, um weniger zu sein, um wieder ruhiger zu werden, um zu begreifen, dass es so viel Größeres als mich selbst gibt und mir das auf merkwürdige Art und Weise ein Trost ist.

Irgendwie, denke ich manchmal, ist das alles fast komisch: Das erste Leben stammt aus dem Meer. Jetzt holt sich das Meer mit dem Klimawandel Stück für Stück Land und Leben zurück. Der Spiegel der Meere steigt, das Wasser verschlingt mit der Zeit immer mehr Grund und uns am Ende vielleicht gleich mit. Dann wird es so sein, als hätte es uns nie gegeben, vielleicht gibt es am Ende wie am Anfang nur noch irgendwelche Pantoffeltierchen im Meer. Wenn das hier nur eine Geschichte wäre, würde ich vielleicht sogar denken, wie schön rund der Bogen doch ist, der sie umspannt; dass Anfang und Ende passen und der Autor sich wirklich mächtig Gedanken gemacht haben muss. Nur ist das hier nicht nur eine Geschichte. Das hier ist mein Leben.

Das Letzte, was ich will, ist: nicht die Wahl zu haben, ob ich zurückkehren kann, weil der Grund nicht mehr bewohnbar ist, weil der Deichbau und unsere Wassersysteme nicht mit dem Anstieg des Wassers mithalten können, weil Tornados in Ostfriesland wüten, die ich zuvor nur aus dem Fernsehen kannte, und der Wind die Häuser wie ein Schwert zerfetzt. Ich möchte mich entscheiden können. Das weiß ich jetzt. Ich möchte einen Ort haben, an den ich zurückkehren kann, wenn ich möchte. Na ja, und: Ich will wirklich nicht auf einem Berg leben müssen. Angst hin oder her, das erträgt mein Magen nicht.

 

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Hier geht es zu Die junge Frau und das Meer von Sylvie Gühmann.


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Die Autorin

Sylvie Gühmann

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