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Mein marokkanischer Roadtrip

Geschichten aus dem Unterholz der marokkanischen Gesellschaft

Im Alleingang und ohne nennenswertes Budget reist Miriam Spies mitten im Winter durch Marokko. Ob per Anhalter, im Nachtbus oder zu Fuß – die Reiseleitung überlässt sie dabei dem Zufall. Lesen und hören Sie jetzt die ersten Ausschnitte aus »Im Land der kaputten Uhren« von Miriam Spies.

Nach gerade mal dreißig Minuten Anwesenheit und zwei kurzen Gesprächen mit Locals hatte dieses Nador etwas unglaublich Unheimliches. Wie ein böses Geheimnis, das über der Stadt lag, das durch die Gassen strich und nach mir zu greifen drohte. Konkreter war jedoch die Problemkette: Ich war ohne einheimisches Geld, ohne Schlafgelegenheit und ohne die Option, hier irgendwie wegzukommen, in einer Stadt voll vermeintlicher Krimineller gestrandet, deren Dialekt nicht mal große Teile der Marokkaner verstehen. Dass das Scheitern so früh einsetzen würde, überraschte selbst mich. Travel the Moroccan way … Scherzkeks.

Ich musste an eine Stelle aus Edith Whartons Reisebericht »In Marokko« denken, den sie 1917 während einer sechswöchigen Reise durch das Land verfasst hatte: »Es ist gut, mit einem solchen Malheur zu starten, nicht nur, weil es den Fatalismus fördert, der nötig ist, um Afrika genießen zu können, sondern weil man dadurch direkt in das rätselhafte Herz des Landes vordringt.«

So langsam waren alle irgendwohin verschwunden, und ich beeilte mich, die letzten Verbliebenen anzusprechen. Vor dem Flughafen stand ein vielleicht Anfang zwanzigjähriger Marokkaner rauchend im Regen.

»Excusez-moi, parlez-vous anglais?«

»Nein, aber Deutsch«, sagte der junge Mann mit starkem Akzent.

Also auch ihm noch mal fix meinen Plan erklärt, auch von ihm Entgeisterung geerntet.

»Hauptsache, du kommst weg hier. Du kannst auf keinen Fall hier bleiben. Das ist echt ’ne Scheißstadt!«, schimpfte er mit zusammengekniffenen Augen und tief ins Gesicht gezogener Kapuze. »Ich sag’s dir, echt, Scheißstadt!«

Mir erschloss sich zwar nicht, warum, aber seine Ablehnung kam ziemlich glaubhaft rüber.

»Weißte was, gleich kommt mein Bruder und bringt mich nach Casablanca ... Fahr doch bei uns mit, wenn der endlich mal kommt. Ich weiß gar nicht, wo der steckt. Ich wart’ hier und wart’.«

Ich warf reflexartig Bedenken ein, dass eine Fahrt nach Casablanca völlig irre sei, weil sie so ziemlich die ganze Nacht in Anspruch nehmen würde, kam mir aber sofort völlig bescheuert vor, weil ich im Grunde ja gar keine Ahnung hatte.

»Quatsch. Das ist nicht weit. Das sind maximal fünf Stunden von hier. Du kommst einfach mit, und wir lassen dich unterwegs in Fès raus. Da fährt immer irgendwas nach Tanger. Vielleicht kriegste dann noch ’n Nachtbus.«

Manch einer mag einwenden, dass es nicht die cleverste Idee ist, alleine als Frau in einem islamischen Land mit zwei wildfremden Marokkanern quer durch das Königreich zu brettern. Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass das immer noch besser war, als mir die Nacht in den Straßen von Nador um die Ohren zu hauen und auf den ersten Bus nach Tanger zu warten. Und wenn ich in den letzten Monaten auch nicht viel gelernt hatte: Dass ich ein ausgezeichnet funktionierendes Bauchgefühl habe, hatte ich schmerzlich herausgefunden. Und dass Menschen, die dich belügen und betrügen, nicht zwingend wildfremde Kriminelle auf verruchten Flughafenvorplätzen arabischer Provinzstädte sein müssen, sondern durchaus langjährige Weggefährten sein können.

Also gut, Koffer bei besagtem Bruder in den Kastenwagen geworfen, reingesprungen, mich kurz mit ihm darüber verständigt, dass wir uns leider nicht verständigen können, und los ging die Reise. Die zwei Brüder, die sich seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatten, lachten unaufhörlich. Ich wusste zwar nicht, worüber, machte aber auch nichts, die Wiedersehensfreude war ansteckend, und ich genoss es einfach nur, dass diese ganze Herzlichkeit auch auf mich überschwappte. Als die erste euphorische Welle verebbt war, drehte sich der Heimkehrer von seinem Beifahrersitz zu mir nach hinten um und streckte mir die Hand entgegen: »Ich bin Wassim, und das ist Dulamah, mein großer Bruder. Und wie heißt du?«

Die beiden freuten sich mächtig, dass ich einen so schönen arabischen Namen habe, und weil Wassim Hunger hatte, beschloss er, dass wir erst mal irgendwo was essen gehen würden. Vermisst hätte er das, deutsches Essen sei eben schon was anderes. Weil wir aber immer noch in Nador waren, was mir langsam wie das marokkanische Bielefeld vorkam, war die Auswahl nicht so riesig. Schließlich fand sich in einer ebenso spärlich beleuchteten wie besiedelten, dafür unglaublich breiten Straße, die von viel Schlamm gesäumt war, etwas, das aussah wie ein zu einer Seite hin offener Pferdestall mit marokkanischen Fliesen und einem großen Flachbildschirm an der Wand, über den Fußball flackerte und vor dem eine Handvoll alter, rauchender Männer in abgerockten Klamotten stand. 

»Der große, große Club von Casablanca«, erzählten mir stolz Dulamah und die Männer, die aussahen, als seien sie so alt wie die Welt. Und als ich die Frage »Almanya?« mit »Naam« beantwortete, bekam ich ganz aufgeregt erzählt, dass der große, große Club von Casablanca mal gegen Bayern München spielen durfte. Ich verstand zwar nicht, wann, denn alle waren schrecklich bemüht, Englisch mit mir zu sprechen. Man einigte sich schließlich auf yesteryear. Wer denn gewonnen habe, fragte ich höflich interessiert nach. Geschimpft wurde nun auf Französisch: »C’est ne pas une question, c’est une provocation!« Fuck, immer diese Fußballfettnäpfchen! Aber alle beruhigten sich schnell wieder, und ich bekam erzählt, dass es eine sehr große Ehre gewesen sei, gegen Bayern München zu verlieren. Was die Marokkaner genau mit dem deutschen Fußball am Laufen haben, weigere ich mich ja zu verstehen. Da fragt man sich: Was weiß der andere wohl von meiner Kultur? Und das Erste, was man auf diese Frage geantwortet bekommt, sind meist die Namen von irgendwelchen angeblich legendären deutschen Fußballspielern, die ich noch nie gehört habe.

Ich drehte mir eine Zigarette und wollte ein paar Meter weiter nach hinten gehen, wo das zwar noch bodengeflieste, aber nicht mehr überdachte und drum halbwegs verschlammte Draußen begann.

»Spinnst du, es regnet doch, komm wieder rein«, kommandierte Wassim.

Tief verinnerlicht, dieses Rauchverbot.

Ich sah’s ein, dass meinem Teilzeitvegetarismus in Marokko nicht viel Sinn abzuringen war.

Kaum war die Kippe ausgetreten, kam auch schon das Essen. Trotz Bärenhunger lehnte ich erst dankend ab (schließlich hatte ich immer noch kein Geld in Landeswährung), wurde dann aber streng darauf hingewiesen, dass ich eingeladen und es sehr unhöflich sei, so was abzulehnen. Zugegeben: Sah ziemlich lecker aus, dieses Fleisch, das eben noch Teil einer Rinderhälfte gewesen war, die an einem Haken an der Regenrinne im überraschend heftigen Wind hin- und herschaukelte. Ich sah’s ein, dass meinem Teilzeitvegetarismus in Marokko nicht viel Sinn abzuringen war. Zum einen würde ich denen sogar glauben, dass ihre Viecher hinterm Haus ein ebenso tiefenentspanntes Leben wie ihre Anbräter führen, und zum anderen war ich froh, dass es kein Huhn war. Das bekomme ich selbst bei noch so viel Hühnerglück nur schwerlich und nur aus Anstand runter.

»Komm mit, Allah möchte, dass wir mit sauberer Hand essen«, sagte Wassim in seinem herzzerreißenden Deutsch.

Ach ja, richtig, jetzt ging das wieder los. Wassim wirkte so, als sei er selbst ein bisschen verdutzt über seinen Satz. Fast, als würde ihm so was in Deutschland nicht rausrutschen, aber hier schien es eine Art Automatismus zu sein.

Mitten in der Karawanserei befanden sich zwei saloonartige Schwingtüren, dahinter ein Waschbecken, dahinter ein Loch im Boden und ein Eimer voll Wasser. Toilettengänge haben im Leben von Marokkanern offensichtlich einen ganz anderen Stellenwert. Da geht man zum Scheißen nicht etwa in den Keller und dann einen langen Gang entlang, nein, da wird quasi in Gesellschaft geschissen, während die anderen drum herum essen.

Auf jeden Fall standen wir vor diesem unfassbar dreckigen Waschbecken, ließen den Blick synchron zur daneben hängenden Dreckinstallation schweifen, die ziemlich sicher ein Handtuch darstellen sollte, und mussten beide loslachen. Dieses ansteckende, hysterische marokkanische Ganzkörperlachen. Wassim merkte selbst, dass sich das nur schwerlich mit irgendwelchen Reinheitsvorstellungen Allahs, wie krude sie auch sein mochten, decken konnte. Kurzerhand wischten wir die Hände an unseren Hosen ab, womit wir hygienestandardmäßig vermutlich wieder genau auf demselben Stand wie vor dem Händewaschen waren, und begaben uns zurück an den kleinen weißen Plastiktisch mit den Plastikstühlen.

»Ich hoffe, ich kriege das hin«, sagte ich, im Vorfeld die Sauerei entschuldigend, die ich mit Sicherheit gleich anrichten würde.

Wassim schaute halb belustigt, halb skeptisch zu mir. »Du willst jetzt aber nicht, dass wir hier irgendwo eine Gabel für dich auftreiben, oder?«

»Nein, Mann, ich krieg das schon hin«, entgegnete ich trotzig.

»Super, dann teil doch schon mal das Brot, ich schenk den Tee ein.«

Kann man beim Brotteilen irgendwas falsch machen? Ich wusste es nicht und drittelte einfach mal drauflos in der Hoffnung, dass das für Allah so klarging. Normalerweise ist mein Interesse an Allahs Wohlwollen denkbar gering. Aber ich hatte nicht so wahnsinnig viel Lust, hier in Nador ausgesetzt zu werden. Und auf meinen letzten Reisen hatte ich gelernt, dass man mit allem rechnen muss, wenn man die Mutter, den König oder den Gott eines Marokkaners beleidigt. Oder den Fußball.

Wassim schenkte derweil wieder und wieder Tee in die kleinen Gläser, schüttete ihn wieder zurück in die Kanne, schenkte wieder aus großer Höhe ein, schüttete wieder in die Kanne und so fort. »Damit der weiße Rand schön aussieht. Hier, diese Luftblasen. Tee muss schön aussehen, wenn man ihn trinkt.« 

In Marokko liegt vielleicht kein Geld auf der Straße. Aber dafür lauern die kleinen Wunder des Lebens hinter jeder Ecke.

Mir soll’s recht sein, wobei es mir schwerfällt, bei ein paar weißen Blubberbläschen am Rand eines Teeglases schon von Ästhetik reden zu wollen. Aber genau das ist die marokkanische Art von Glück: Du kannst am Arsch der Welt auf klapprigen Plastikstühlen in einer Bruchbude sitzen, durch die Wind und Regen pfeifen, und Tee aus Gläsern trinken, wie du sie dreckiger nie gesehen hast. Wichtig ist nur, dass das Essen viel, der Tee süß und mit weißem Schaumrand versehen ist. In Marokko liegt vielleicht kein Geld auf der Straße. Aber dafür lauern die kleinen Wunder des Lebens hinter jeder Ecke. Die marokkanische Art von Wunder, die Zigarettenpapier in Schmetterlinge verwandelt, die einen über Stunden verzaubern können. Nicht die deutsche Art von Wunder, die, wumms, Deus ex Machina, mit großem Getöse inszeniert werden muss, weil das Quäntchen Wunder, das einem als Kind ausreichte, um einem ein aufrichtiges Staunen zu entlocken, längst von einer ganzen Wunderfabrik abgelöst wurde, die überboten werden will für ein Quäntchen Staunen.

[…]

Der Blick auf die Uhr verriet, dass es schon elf war, demnach konnte es ja nicht mehr so weit sein. Dulamah sagte irgendwas. Ich glaubte, das Wort taban verstanden zu haben, und ließ verlautbaren, dass ich Koffeintabletten dabei hätte und eine Runde schmeißen würde. Wassim übersetzte, und Dulamah fand das hervorragend.

»Hab ich aber im Kofferraum.«

»Na gut, er fährt bei der Nächsten raus.«

Die Nächste war etwa eine halbe Stunde entfernt und eine Tankstelle. Ich kramte das Plastiktütchen mit den wenigen Kosmetika, Medikamenten und Flüssigkeiten aus dem im Kofferraum liegenden Koffer und stieg wieder vorne ein. Ob ich auch Becher und Zucker dabei hätte, wurde ich gefragt. Was die beiden mit Bechern und Zucker wollten, fragte ich zurück, die brauche man nicht für Koffeintabletten, die könne man einfach schlucken. Kurze grübelnde Stille setzte ein, beide Seiten versuchten zu verstehen, wovon die andere redete.

Schließlich hob ich meine Koffeintabletten in die Luft und wedelte damit herum. Von einer auf die andere Sekunde brach lauthals arabisches Geschimpfe über mich herein. Dulamah zeigte auf die Tabletten, redete auf seinen Bruder ein, der sagte, dass sie keine Tabletten nehmen und dass das verboten sei im Islam, nicht gut für den Körper, der Bruder hörte gar nicht mehr auf zu reden, warum ich so was mit nach Marokko bringen würde, übersetzte Wassim, dass das wach hält, versuchte ich zu beschwichtigen, was alles nur noch schlimmer machte, und langsam wurde mir klar, dass die beiden meinten, ich würde so was wie in Tablettenform gepresstes Speed schachtelweise mit mir führen.

»Quahwa! Quahwa ma Coffein! C’est seulement comme beaucoup de café!«, wiederholte ich jetzt mantrahaft und tippte unaufhörlich mit meinem Zeigefinger auf die Aufschrift, »Coffeinum N 0,2 g«. »Das ist nur wie viel Kaffee, viel, viel Kaffee, Koffein, was auch in Kaffee ist, sag das deinem Bruder!«

Wassim schaffte es tatsächlich, den Wortschwall des Bruders zu unterbrechen und zu übersetzen. Endlich setzte wieder Stille ein.

»Das sind keine Drogen. Das ist wie Kaffee. Nur in Tablettenform.«

Beide schauten nach vorne aus der Windschutzscheibe und schienen nachzudenken. Wie lange das wach hält, wollte Dulamah schließlich wissen. Er solle nur eine Halbe nehmen, sagte ich, dann rette ihn das über die nächsten vier bis sechs Stunden, aber ehrlich gesagt hatte ich keinen blassen Schimmer, ob das stimmte. Nicht dass er dann die nächsten vier Tage wach sei, gab er zu bedenken. Zumindest das konnte ich mit Sicherheit verneinen.

Die beiden unterhielten sich noch kurz, schnell und leise, dann wollte Wassim wissen, ob wir Deutschen wirklich Kaffee in Tablettenform machen. Ich hielt ihm die Packung hin, er übersetzte seinem Bruder. Beide fingen an zu lachen. Erst gluckste es nur leise, von Kopfschütteln begleitet, aus ihnen heraus, bis sie lauthals lachend mit den Köpfen auf Lenkrad und Armaturenbrett lagen und sich Tränen aus den Augen wischten. Ich kam mir ein bisschen verarscht vor, war aber trotzdem heilfroh, dass diese Kuh vom Eis war.

Dulamah stieg aus, ging in die Tankstelle und kam wenige Minuten später mit drei kleinen Bechern Espresso zurück. Er drückte mir einen in die Hand und lachte versöhnlich. »Madame, ishrab! Moroccan way of coffee«, sagt er, und ich brachte nur ein erleichtertes »Shukran!« über die Lippen. Hatte mich kurzzeitig schon mit meinem Koffer an einer Tankstelle im Nirgendwo Marokkos ausgesetzt gesehen. Wir schlürften unseren Kaffee, der so süß war, dass sich mir der Magen umdrehte, und Wassim sagte lachend: »Das kann auch nur Deutschen einfallen! Kaffee in Tablettenform. Ihr spinnt doch! Alles immer schnell, schnell. Kaffee – muss man genießen.« Ich stimmte, etwas gequält lachend, zu. Schließlich ließ Dulamah den Motor wieder an, und wir fuhren endlich weiter.

Wir bedanken uns bei Marc Koch und unserer Autorin Miriam Spies für die Produktion und Bereitstellung der Hörproben.


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Die Autorin

Miriam Spies

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