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Die Geburt

Von Fruchtbarkeitskochkursen, Schutzgöttern und staatlich verordneten Speeddates

Es ist 15:33 Uhr, als Watanabe Haruki spürt, dass etwas anders ist als sonst. Er macht sich auf den Weg. Mühsam ist es, und es dauert. Aber schließlich wird es hell. Heller als jemals zuvor. Haruki erblickt zum ersten Mal in einem Krankenhaus in Tokio das Licht der Welt.

Zeitgleich wird circa vierzig Kilometer entfernt ein riesiger Stahlpenis durch die Straßen von Kawasaki getragen. Es ist der erste Sonntag im April, und am Kanayama-Schrein wird Kanamara Matsuri gefeiert, das Fest des stählernen Penis. Mit so ziemlich allem, was man sich in Penisform vorstellen kann: Lollis, Eis und Schokobananen, sogar Kerzen und Brillen. Die Einwohner tanzen fröhlich um riesige Penisskulpturen, die durch die Straßen gezogen werden, und junge Mädchen posieren für Selfies lachend auf einem riesigen Holzdildo.

Was nach einem bizarren Halloween-Fest klingt, geht auf eine alte japanische Sage zurück. Ein Dämon bemächtigte sich junger Frauen und vor allem ihrer Vagina und gab dieser – hier werden Männeralpträume wahr – scharfe Zähne. Jeder Liebhaber begab sich also in die Gefahr, sein bestes Stück einfach abgebissen zu kriegen. Zum Glück kam ein Schmied auf die Idee, einen stählernen Penis zu schmieden, und der Dämon biss sich im wahrsten Sinne die Zähne daran aus. Praktischerweise konnte der Schmied sein Mädchen direkt heiraten, nachdem der Dämon geflohen war. Der Kanayama-Schrein, an dem das Spektakel abgehalten wird, war früher eine Anlaufstelle für Prostituierte, die um gute Geschäfte und Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten baten. Der Shintoismus ist in dieser Hinsicht um einiges liberaler und der Sexualität gegenüber aufgeschlossener als das Christentum. Heute ist das Fest vor allem eine Feier für Fruchtbarkeit und Liebesbeziehungen und dient als Spendenaktion für die Aids-Forschung.

Zum Glück hatte Kenji vor gut neun Monaten keine Angst vor der bissigen Vagina. Denn sonst wäre Haruki wohl niemals geboren worden. Und die Japaner können aktuell jedes Neugeborene gut gebrauchen. Denn die Bevölkerungszahlen sind rückläufig. Anfang der 1950er-Jahre lag die Geburtenrate in Japan noch bei 2,75 Kindern pro Frau. Heute dagegen liegt sie bei 1,43 Kindern und in Tokio sogar nur bei 1,13. Damit schrumpft die Bevölkerung, und schon heute werden in Japan mehr Windeln für Erwachsene als für Babys verkauft.

Kein Wunder, dass die Regierung nun handelt. So werden staatlich organisierte Speeddatings und Vaterschaftskurse veranstaltet. Die Präfektur Akita hat es besonders schlimm erwischt; hier schrumpft die Bevölkerung noch schneller als anderswo. Daher hat die Regierung ein Hochzeitunterstützungszentrum ins Leben gerufen. Heiratswillige können sich hier registrieren und vom Staat verkuppeln lassen – etwa bei einer romantischen Fahrt im Shinkansen oder beim gemeinsamen Backen am Valentinstag.

Kenji und Yukiko haben sich zwar auf die altmodische Art kennengelernt, aber auch sie haben länger gezögert, ehe sie ein Kind bekamen. Nicht etwa, weil sie keins wollten – aber wann ist der richtige Zeitpunkt? An ein uneheliches Kind war gar nicht erst zu denken. In Japan werden 98 Prozent der Kinder nach der Hochzeit geboren (häufiger auch weniger als 9 Monate danach), in Deutschland dagegen kommen mehr als 30 Prozent der Kinder unehelich auf die Welt. Mit ihren 28 Jahren waren Kenji und Yukiko bei der Hochzeit noch relativ jung (das durchschnittliche Heiratsalter liegt bei Frauen inzwischen bei 29,4 Jahren, 1979 lag es noch bei 24,2 Jahren), trotzdem ist Yukiko nun bei der Geburt ihres ersten Kindes bereits über 30. Yukiko ist es aber wichtig, Mutter zu werden, bevor sie 35 ist.

Diese magische Grenze herrscht bei vielen Frauen im Kopf vor und wird vom japanischen Gesundheitssystem unterstützt, das über 35-Jährige nicht zum Kinderkriegen ermutigt, sondern als Risikoschwangerschaft einstuft. Zum Teil steigen die Kostenpauschalen in den Krankenhäusern mit dem Alter der Frauen. Damit verkürzt sich allerdings der Zeitrahmen zum Kinderkriegen auf wenige Jahre.

Ami, eine Arbeitskollegin von Yukiko – sie ist schon 34 – hat sich neulich bei Ninkatsu-Yoga angemeldet. Ninkatsu ist eine Wortschöpfung aus ninshin (Schwangerschaft) und katsudo (Aktivität). Der spezielle Yoga-Kurs soll die Körpermitte erwärmen und somit eine Schwangerschaft begünstigen. Noch hat es bei Ami nichts geholfen. Vielleicht meldet sie sich noch zu einem Ninkatsu-Kochkurs an – oder sie kann ihren Mann überzeugen, sein Sperma testen zu lassen. Denn immerhin liegt es bei rund 50 Prozent der ungewollt kinderlosen Paare an den Männern ...

Für Kenji und Yukiko wiederum ist der enge Zeitrahmen nicht das einzige Problem. Bis zur Hochzeit haben sie noch bei ihren Eltern gewohnt – ganz einfach weil sie sich in der teuren Hauptstadt keine eigene Wohnung leisten konnten. Zum Glück verdienen beide inzwischen genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Aber einfach wird es nicht. Kenji fährt jeden Tag über eine Stunde zur Arbeit, bei Yukiko sind es 40 Minuten – obwohl die beiden in Tokio leben und arbeiten. Ihre kleine Wohnung reicht für ein Kind, für ein zweites müssten sie arg zusammenrücken. Kinderbetreuungsplätze sind rar in der Hauptstadt, und Yukikos Arbeitgeber erwartet, dass sie spätestens nach den 14 Wochen Mutterschaftsurlaub wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt. Kenji könnte theoretisch auch Erziehungsurlaub nehmen, fürchtet aber berufliche Nachteile. Nur etwa ein Prozent der japanischen Männer nimmt Erziehungsurlaub. Da die Kita-Plätze nach einem Punktesystem vergeben werden, hofft Yukiko, dass sie einen Betreuungsplatz bekommt. Sie hat aber sogar schon von Bekannten gehört, die sich haben scheiden lassen, um als Alleinerziehende mehr Punkte zu bekommen – nur um direkt danach wieder zu heiraten.

An so etwas denken die beiden so kurz nach der Geburt nicht. Zum Glück ist alles gut gegangen. Zur Sicherheit waren Yukiko und Kenji kurz vorher noch bei einem Schrein in der Nachbarschaft gewesen und haben für eine sichere Geburt gebetet. Gegen eine Gebühr hat ein Priester dann die entsprechende Zeremonie durchgeführt, und Yukiko bekam neben Reis, Sake und einer Schutzgotttafel noch einen Gürtel, den sie sich um den Bauch wickelte. Schon einmal, zu Beginn des fünften Schwangerschaftsmonats waren Kenji und Yukiko am Tag des Hundes am Schrein, um für die Geburt zu beten. Ab dem fünften Monat gilt eine Schwangerschaft in Japan als »sicher«, also einen Monat später als hierzulande. Warum am Tag des Hundes? Hunde spüren angeblich keinen Wehenschmerz, und wer wünscht sich das nicht. Trotz göttlicher Unterstützung ist Yukiko aber froh, dass sie sich für eine schmerzstillende PDA entschieden hat, auch wenn sie den Volksglauben kennt, dass eine Mutter die Wehen ohne Schmerzmittel aushalten sollte, damit sie sich besser auf ihre Mutterrolle vorbereitet und eine bessere Mutter-Kind-Bindung aufbaut.

Auch Kenji denkt eher modern und wollte daher bei der Geburt dabei sein. Beim Geburtsvorbereitungskurs haben beide gelacht, als er sich die 10-Kilo-Schürze umgebunden hat, um besser nachvollziehen zu können, wie es seiner Frau geht. Gut, ein bisschen komisch ist er sich schon dabei vorgekommen. Zum Glück hat ihn keiner der Kollegen so gesehen … Und ganz schön unbequem war es auch. Yukiko hatte zu Beginn der Schwangerschaft von ihrem Arzt die Empfehlung bekommen, dass sie bestenfalls nicht mehr als 8 bis 12 Kilo zunehmen sollte. Da sie ungefähr in der Mitte bei 10,5 Kilo gelandet ist, passte das Gewicht der Schürze schon ganz gut.

Bei der Auswahl des Namens haben sie sich im Vorfeld einige Gedanken gemacht. Für Haruki haben sie sich entschieden, weil sie die Bedeutung und auch die Schreibweise in Kanji schön fanden. Dabei kann haru und auch ki je nach Schreibweise verschiedene Bedeutungen haben. Yukiko hat sich dann für »haru – Sonne« und »ki – lebendig« entschieden.

Jetzt, nach der Geburt, interessiert sich Yukiko auch für die Blutgruppe des kleinen Haruki. Wie viele Japaner glaubt sie daran, dass die Blutgruppe den Charakter beeinflusst. Auch wenn es wissenschaftlich keinen Hinweis auf einen Zusammenhang gibt – wie beim Glauben an Horoskope und Sternzeichen – Yukiko hofft doch, dass Haruki wie sie A positiv ist. Denn A gehört zu den »guten« Blutgruppen mit für Japaner wichtigen Eigenschaften. Menschen mit Blutgruppe A sind demnach sensibel und einfühlsam, nehmen Rücksicht auf andere Personen, lieben Ordnung, sind ausdauernd, fleißig und sichere Autofahrer. (Nun ja, Harukis Qualitäten als Autofahrer sind Yukiko momentan vielleicht noch nicht so wichtig.) Menschen mit Blutgruppe B dagegen denken nicht so sehr an andere, ziehen ihr eigenes Ding durch, halten sich nicht immer an Regeln, sind flexibel, pragmatisch, feiern gerne und verlieben sich schnell. Das mögen Eigenschaften sein, die auf viele Protagonisten in Hollywood-Filmen zutreffen und da durchaus positiv besetzt sind; Yukiko ist trotzdem erleichtert, als sie erfährt, dass Haruki wie 40 Prozent der Japaner Blutgruppe A hat.

Praktischerweise gibt es passend zur Blutgruppe abgestimmte Produkte zu kaufen. Zum Beispiel Badezusätze, die je nach Blutgruppe zur Entspannung verhelfen, oder Softdrinks, die bestimmte Eigenschaften je nach Blutgruppe verstärken sollen. Es gibt Selbsthilfebücher, Parfüms, Flirttipps und Partnervermittlung auf Basis der Blutgruppe und sogar unterschiedliche Kondome. Aufgebracht hat das Ganze der japanische Arzt Kimata Hara, der 1916 als Erster nach Hinweisen für den Zusammenhang zwischen Blutgruppe und Charakter suchte. Gefunden hat er zwar nichts – zumindest nichts wissenschaftlich Haltbares – aber wen stört das schon?

Yukiko findet zumindest, dass sie und Kenji perfekt zusammen passen. Kein Wunder, er hat ja auch Blutgruppe 0 (wie 30 Prozent aller Japaner), und laut Beziehungsratgebern und Frauenzeitschriften ist die Paarung A und 0 eine gute Kombination. Voller sich ergänzender Gegensätze.

Fünf Tage später sind die beiden zusammen mit ihrem neugeborenen Sohn wieder zu Hause. In den Tagen im Krankenhaus hat Yukiko gelernt, wie sie das Baby stillt, wickelt und badet. Das erste Bad (ubuyu) gab es traditionell am dritten Tag nach der Geburt. Auch jetzt zu Hause wird der kleine Haruki jeden Tag gebadet. Vielleicht wird er dadurch wie seine Eltern zu einem Fan vom Bad im onsen. Nachts schläft Haruki, wie so viele japanische Kinder, mit im Bett seiner Eltern. Und das wird auch so bleiben, bis kurz vor seinem dritten Geburtstag, wenn Kenji ihm ein eigenes Bett kauft.

Aber so weit ist es noch nicht. Bevor Haruki auch nur seinen ersten Geburtstag feiern kann, warten noch einige übliche religiöse Rituale auf ihn ...

In der siebten Nacht nach seiner Geburt geht es schon los. Es ist Zeit für oshichiya, das Schreiben des Namens. Kenji gibt sich viel Mühe, den Namen seines Neugeborenen mit dem Kalligrafiepinsel so schön wie möglich zu Papier zu bringen. Dann wird er gut sichtbar aufgehängt und somit offiziell der Familie verkündet. Da kommen auch schon seine und Yukikos Eltern vorbei, um bei einem Essen gemeinsam diesen Tag zu feiern.

Am 5. Mai wird in Japan der Tag der Kinder gefeiert. Früher war es der Tag der Jungen, heute gilt er für alle Kinder. Die Mädchen haben aber noch einen eigenen Feiertag am 3. März. Kenji hängt als stolzer Vater eines Jungen die typischen Koinobori (Karpfenwimpel) auf. Einen großen schwarzen, der den Vater repräsentiert, einen roten für die Mutter und einen kleinen blauen für seinen Sohn. Allerdings ist es ein wunderschöner, fast windstiller Frühlingstag, sodass sie nur schlaff herunter hängen. Aber egal. Danach trifft sich die Familie bei Kenjis Eltern. Sie haben eine Samurai-Figur aufgestellt, die Gogatsuningyo, um den Söhnen Stärke zu verleihen, und beten gemeinsam für die Gesundheit des kleinen Haruki. Den Kinderumzug, bei dem der Omikoshi-Schrein durch die Straßen getragen wird, verschläft Haruki. Nächstes Jahr wird er vielleicht mehr davon mitbekommen.

Am 31. Tag nach der Geburt (bei Mädchen am 33. Tag nach der Geburt) kommt der nächste wichtige Schritt. Yukikos Mutter ist schon früh da und hat das Geschenk mitgebracht, einen kleinen traditionellen Kimono für Haruki. Alle sind sich einig, dass er einfach zu niedlich darin aussieht, und schon machen alle zur Sicherheit die ersten Fotos. Auch Yukiko, ihre Mutter und Schwiegermutter haben Kimonos angezogen. Die Familie macht sich auf den Weg zum Schrein in der Nachbarschaft. Bis dorthin darf eine der Großmütter das Baby tragen, und zwar Kenjis Mutter. Aber natürlich werden vor dem Schrein noch Fotos mit Haruki auf den Armen aller Großeltern gemacht. Leider sind die Kirschblüten schon verblüht – wäre Haruki einen Monat früher geboren, hätte es noch klappen können, dass sie ein Erinnerungs-Familienfoto vor Kirschblüten hätten machen können. Im Schrein stellt der Priester das Baby den Göttern vor und liest dabei laut den Namen der Eltern, deren Adresse und natürlich den Namen des Babys. Es sind noch vier andere Familien da, aber Kenji und Yukiko sind sich einig, dass Haruki bei Weitem das hübscheste Baby ist. Außerdem hat er die ganze Zeit nicht geweint und das Ritual somit nicht gestört. Ein tolles Kind!

100 Tage nach der Geburt kommt ein großer Tag für Haruki. Okuizome, die erste richtige Mahlzeit für das Baby. Yukiko hat dafür ein Geschirr-Set mit kleinen roten Schüsselchen gekauft. Für Mädchen ist die traditionelle Farbe für das Geschirr schwarz. Yukiko hat ein vollständiges Menü für den kleinen Haruki zubereitet, unter anderem Sekihan (Reis mit roten Bohnen), gedünstetes Gemüse, einen Stein und natürlich Fisch. Moment … einen Stein? Natürlich ist es ein glatter Stein, und Haruki hat zum Glück auch noch keine Zähne. Vorsichtig lässt Kenji seinen kleinen Sohn ein bisschen auf dem Stein herumkauen – das soll dabei helfen, dass Haruki bald schöne, gesunde Zähne wachsen. Yukiko und Kenji wechseln sich bei dieser ersten Mahlzeit mit dem Füttern ab, Haruki isst aber nur ein paar Bissen und macht eine ganz schöne Unordnung dabei, weil er die ganze Zeit versucht, nach den Stäbchen und Schüsselchen zu greifen. Die süßen roten Bohnen scheint er aber schon mal gerne zu mögen.

Heute sind die vielen Rituale um die Geburt schöne Gelegenheiten, sich mit der Familie zu treffen und Erinnerungsfotos zu machen. Ursprünglich dienten sie aber dazu, das Leben des Kindes zu schützen. Bei der Geburt – so glaubte man – wird das Baby von einem unsterblichen Ahnengeist durchdrungen. Sobald das Baby seinen ersten Schrei – ubugoe – ausstößt, ist es so weit. Allerdings ist die Verbindung zwischen Geist und Körper am Anfang noch schwach und kann sich leicht lösen. Denn auch wenn Japan mittlerweile die weltweit niedrigste Kindersterblichkeit hat, war das nicht immer so. In früheren Zeiten gab es daher viele Rituale, um den Geist an den Babykörper zu binden und das Kind damit zu schützen.

Davon weiß Haruki noch nichts. Yukiko hat ihm einen Schwimmring gekauft, der aber nicht um die Hüfte, sondern wie ein Kragen um den Hals gelegt wird. Darin treibt Haruki fröhlich glucksend zuhause im ofuro, denn baden macht ihm noch immer großen Spaß.


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Die Autoren

Kerstin und Andreas Fels

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