Myanmar – Feuerballone und Einbeinfischer
Unser Autor Claudio Sieber zog sechs Jahre als Nomade durch Asien. Für die CONBOOK Stories nimmt er uns mit nach Myanmar und berichtet von seiner Reise durch Shan State im Jahr 2016. Dies ist der erste Teil seiner Geschichte.
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Von Myanmars Hauptstadt Naypyidaw gen Osten, zum beschaulichen Weiler Kalaw im Shan Staat. Der beißende Kontrast wächst mit jedem Meter Abstand – Naypyidaw, ein Desaster aus Beton, viermal so riesig, viermal grauer als London. Nein, keine eigentliche Geisterstadt, denn nicht einmal die Geister würden gerne einziehen. Nur versteifte Verwalter hocken rum, und verwalten, verwalten, verwalten. Und nun, die bunte Countryside der Arbeiterklasse. Hier haben sie Sonne, Swing und Reiswein.
Dass ich keinen Guide für die anstehenden 60 Kilometer Marsch anheuern will, schätzen sie hier überhaupt nicht. Nonchalant werden mir Informationen zu möglichen Routen vorenthalten. Meinetwegen, die sporadisch auftauchenden Landwirte weisen mich ebenso in die korrekte Richtung.
Landleben pur – auf dem Weg von Kalaw zum Inle See
Mehrere Stunden führen die Pfade entlang knallgelber Rapswiesen, Reis- und Chilischotenfelder bis nach Khon Hla, einer kleinen Ansammlung von urchigen Hütten. Weiter schaffe ich es heute nicht. Der Tag schenkt mir zu guter Letzt die Familie von Aung Min Oo, die mich für eine Gebühr von eineinhalb Euro auf ihrem Fußboden nächtigen lässt, Brunnendusche inklusive. Ein verschwenderischer Sternenhimmel überzieht das Dorf. Nach etwas Reis mit Beilage führt mich mein Gastgeber zum lokalen Kartenturnier im zweiten Stock eines muffelnden Kuhstalls. Heiter kauern sie bereits alle dicht beisammen. Um die 50 Landwirte im Männerrock aufgeteilt in 5er- oder 6er-Grüppchen füllen den lichtarmen Speicher. Hin und wieder will eine Dampfwolke an mir vorbei, es riecht nach Cheroot, dem grünen und filterlosen Stumpen der Nation, dazu Noten vom Saft zerkauter Betelnüssen. Unisono heißt mich das Volk der Danu willkommen, ich schüttle Hand für Hand, baumstarke wie große Hände, die von lebenslanger Arbeit auf den Feldern berichten. Da ich ihr Kartenspiel nach zwei Stunden Reiswein und Feldstudie immer noch nicht durchblicke, wechseln wir in den Holzverhau von Aung Min Oo’s neuer Freundin. Dass sie zehn Jahre jünger ist als er und keinen Kyat Erspartes hat, stört ihn wenig. Eine »honest woman« sei sie, nur das sei relevant. Verständlich. Vor drei Jahren ist seine Ex heimlich ins benachbarte Thailand ausgebüchst und hat ihm den gemeinsamen Sohn dagelassen. Fehler sind zum Lernen da, nicht zum Wiederholen.
Traumtrunken äuge ich auf die Familienälteste, die gerade neben meiner Bambusmatte zum buddhistischen Morgengebet angetreten ist. Fein säuberlich poliert sie erst die Glatze der Götze, legt ein paar frisch gepflückte Blumen auf den Altar und kniet nieder. Ein guter Moment, um von dannen zu ziehen.

Am verwaschenen Horizont zeigt sich bereits ein Zipfel von Myanmars populärstem Gewässer. »Der Inle-See steht kurz vor einer ökologischen Katastrophe«, droht der auf nachhaltigen Tourismus spezialisierte Arild Molstad aus Norwegen. Die von den »Söhnen des Sees«, alias die hier ansässige Intha-Ethnie, benutzen Textilfarben vergiften das Ökosystem, ihre ungeregelte Landwirtschaft verursache Erosionen, der Fischbestand schrumpfe kontinuierlich und invasive Pflanzen verstopfen die Wasserwege. Dazu kommt: Der See steht schon seit Jahrzehnten auf der To-Do Liste jedes Myanmar-Package-Touristen. Wer könnte den Schaulustigen böse sein? Die Stelzendörfer entlang dem Ufer sind eklatant romantisch, selbst nach Dekaden der touristischen Penetration.


Ich verzichte auf die gängige Tagestour, in welchen sie durch bis zu vierzehn (!) Sehenswürdigkeiten schleusen, und buche stattdessen meine eigene Schaluppe samt Kapitän. Im gemächlichem Tempo steuert Lon They zur Seemitte, wo die südostasiatischen Gondoliere gerade die letzten Schuppen aus dem Wasser ziehen. Dabei brillieren sie mit einer unvergleichbaren Ruderkunst; ein Bein balanciert auf dem Bug, das andere umschlingt akrobatisch das Paddel und stößt das Boot mit Hilfe einer leitenden Hand in Richtung Tatort. So bleibt immer noch eine freie Hand, um mit Fischernetzen zu werfen.


Mittlerweile nutzen diverse Akrobaten die Gunst der Stunde. Pünktlich zu Sonnenauf- und Sonnenuntergang warten sie mit Bambuskörben hampelnd an der Kanal-Enge auf Spenden von Touristen. »Einst haben sie mit ihrer speziellen Technik tatsächlich Fische gefangen, heute sind sie Foto-Huren«, höhnt Lo They. Wir rudern weiter, durch schwimmende Alleen aus Tomaten. Für seinen quickfidelen Gemüsegarten hat der dreifache Familienvater auf einem Teppich aus Wasserhyazinthen so lange Schlamm aufgetragen, bis sich über die Jahre nährstoffreicher Humus gebildet hat. Mittels Bambuspfählen hat er das Ganze schlussendlich befestigt. Fortan pflanzt und pflückt seine Familie das Gemüse vom Boot aus.

Stelzendörfer, posierende Fischer, schwimmendes Gemüse, die Region hat noch eine weitere Rarität zu bieten – die wertvolle Lotusfaser. In mehreren Fabriken am Rande des Sees klappern nostalgisch anmutende Webstühle. Für einen Meter Stoff ackern die Weberinnen knapp eine Woche. Dafür werden bis zu 13.000 Lotuspflanzen geopfert. Lotus wärmt im Winter und kühlt Sommer. Ein Effekt, der sich teuer bezahlen lässt. Das weiß auch die Verkaufsabteilung der italienischen Marke Loro Piani, die ihre Lotus-Anzüge für bis zu 7.500 Euro auf dem Markt verkauft.


Ausschiffen und weiter nach Norden. Nachforschen wo die Massen hingelotst werden und eine Alternativroute aushecken. Mit der Dämmerung treffe ich im 80 Seelen-Kaff Sin Mee ein, das Revier der Tongio. Ich gestikuliere das international anerkannte Sinnbild für Tiefschlaf und habe Erfolg. Zweieinhalb Zähne in einem verhungerten Körper grinsen mir vielversprechend entgegen. Die greise Dame holt sogleich ihre Schwiegertochter Maeri Ou, um mit mir den Preis zu verhandeln. Die Familie produziert Zigarrenblätter für Cheroot Manufakturen. Ich will mich für die Gastfreundschaft erkenntlich zeigen und helfe mit beim Entstielen. Zur Begeisterung aller Dorfbewohner, die so ganz zufällig vorbeischleichen und dann reihenweise Schnappschüsse machen. Nach knapp 2.000 Tabakblättern gebe ich mich geschlagen. 2.000 Genussmomente für mir unbekannte Nikotinsüchtige soll reichen. Maeri Ou wiederum startet das Feuer unter dem Fußboden und beginnt die Blätter auszufächern. Steindeckel drauf, warten, herausnehmen, aufstapeln, ausfächern, Steindeckel ... usw.
Maeri Ou beim Tabakblätter trocknen & eine Konsumentin bei Inle
Nach einer Woche schnippeln und schnelltrocknen ist der Blätterturm von zwei Metern Höhe verkaufsreif. Lediglich 20.000 Kyat (16 Euro) erzielt die Familie damit auf dem Markt in Taunggy, der Hauptstadt vom Shan-Staat. Ab sofort rauche ich mehr Zigarren. Am nächsten Tag erreiche ich planmäßig die geteerte Straße. Nach drei Minuten Daumenrecken lädt mich bereits ein Sammel-Laster mit fünf kichernden Frauen und einem Mönch auf. Der Mönch übersetzt, die Weiber wiehern vergnügt. Auch sie wollen die 2.478 Stupas von Kakku erkunden, ich darf mich anschließen.

Myanmars Regensaison neigt sich dem Ende, das soll adäquat gefeiert werden! Epizentrum des dafür zelebrierten »Tazaungdaing« ist die Hauptstadt vom Shan Staat. Der Ruf eines Schmuggelhorts für zwielichtige Ware von und nach Laos, China und Thailand eilt Taunggy voraus. Darüber hinaus behauptet sich die Stadt als Dreh- und Angelpunkt für den Handel von Knoblauch sowie burmesischen Zigarren. Heute raucht es jedoch aus anderen Gründen. Als ich eintreffe, geht die Party bereits steil. Ein marodes Riesenrad wurde errichtet, nur hat es keinen maschinellen Antrieb. Will jemand eine Runde drehen, klettern die Marktfahrer am Gehäuse hoch und schmeißen sich mit Schwung an eine Metallkabine. Nebenan werfen Kinder mit alten Veloreifen nach aufgestellten Plastikflaschen. Zum Höhepunkt des Abends reisen verschiedene Teams mit ihren haushohen Heißluftballons an. Je nach Gusto werden die Ballone nun entweder mit Kerzen verziert oder eine 50 Kilogramm-Ladung an Feuerwerksraketen am Rumpf befestigt.
Jeder hilft den 10 Teams bei der Dekoration bevor der Heissluftballon abhebt
Das Verrückte? Kaum sind die Ballone in der Luft, schießen die Raketen willkürlich in alle Richtungen; nach unten, zur Seite und hin und wieder in die Menge. Die Sicherheitsvorkehrungen bestehen aus einem kleinen Feuerwehrtrupp, der im Notfall das Schlimmste verhindern soll. Dass es immer wieder Tote und Verletzte gibt, kümmert keinen. Jung und Alt freut sich auf den Event. Ebenso die Hoteliers der Region. Die Bettpreise wurden kurzum verzehnfacht, was mich Geizhals dazu motiviert, nach einer ökonomischen Schlafmöglichkeit auszuschauen. Mit einer guten Portion Glück treffe ich auf den Psychologiestudenten U Kyaw, er verdient sich hier beim Nudelnkochen einige Kyat. Wir werden so etwas wie Freunde auf den ersten Blick. Er schenkt mir einen Karton, eine Flasche Wasser und ein durchlöchertes Tuch um die frostige Nacht zu überstehen. Ich mache es mir hinter seinem Marktzelt gemütlich, weit oben im Himmelszelt verglühen die letzten Raketen.

Claudio Siebers Buch
In Gestrandet im Paradies erzählt Claudio Sieber, wie er sechs Jahre als Nomade durch Asien zog und seine Heimat auf einer Tropeninsel fand.
Alltag, Karriere, Familie, Freundschaften, Versicherungen und das vorab bezahlte Sockenabo – all das lässt der Schweizer Claudio Sieber zurück, als er sein Leben als Vagabund beginnt. Seit mehr als sechs Jahren lässt er sich als Abenteurer und Journalist durch Asien und Ozeanien treiben, um am Ende auf Siargao zu landen, seinem persönlichen Paradies. Dort angekommen blickt er zurück auf seine Reisen, die er mal zu Fuß, mal per Motorrad und mal auf einem kleinwüchsigen Pferd zurückgelegt hat. Ehrlich und reflektiert erzählt er, wie er die Länder nicht nur abgehakt, sondern ausgekostet hat – und warum es sich lohnt, auf dem Weg zum Ziel auch mal die Seitenstraßen zu nehmen.
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Der Autor
Claudio Sieber
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