Myanmar – Noch mehr Feuerballone und glänzendes Metall drumherum
Unser Autor Claudio Sieber zog sechs Jahre als Nomade durch Asien. Für die CONBOOK Stories nimmt er uns mit nach Myanmar und berichtet von seiner Reise durch Shan State im Jahr 2016. Dies ist der zweite Teil seiner Geschichte. Hier geht es zum ersten Teil.
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Sanfte Busfahrt nach Loikaw, Hauptstadt vom Kayah Staat. Kaum zugestiegen, klappt der Novize Pyo Oo auf dem Sitz neben mir in die Lotusposition und döst davon. Ich bewundere jeden, der sich per Knopfdruck von der Außenwelt ausklinken kann. Neben Personen wird ebenso Gemüse und Baumaterial in die umliegenden Nester verfrachtet. Nach acht Stunden und 150 Kilometern trudeln wir in Loikaw ein. Jeder zoomt auf mich. Wen wundert’s, der kleine Staat ist erst seit kurzem für Individualtouristen offen, noch um 2014 war es selbst für Myanmaren aus anderen Teilen des Landes Sperrgebiet. Sperrgebiet?
Eine Frau schleppt ihren Wocheneinkauf nach Hause. Auf dem Kopf. Flankiert von diabolischen Motorgeräuschen rumpeln kantige Fahrgeräte durch Loikaws Gassen. Geboren während des Zweiten Weltkriegs wurden die chinesischen Militärvehikel nach der Außerbetriebnahme für die hiesige Landwirtschaft frisiert, auseinandergeschraubt und mit viel Kreativität wieder zusammengesetzt. Ihre Fahrer lugen kokett von rustikalen Holzbänken empor und biegen per Handzeichen ab. Da den meisten die Scheinwerfer fehlen, weisen die Beifahrer den Weg durch die Nacht per Taschenlampe. Ich liebe diese ersten Momente in fremden Orten und begegne ihnen routiniert. Streifen, beobachten, Unterschlupf suchen. Die kommenden Tage feiert auch Loikaw das »Tazaungdaing«. Grund genug zu verweilen – Raketen, die in alle Richtungen schießen, haben irgendetwas Anziehendes. Meine Reise in den tiefen Osten des Landes ist aber hauptsächlich einem Kulturinteresse geschuldet. In der Region leben die letzten authentischen Padaung (eine Untergruppe der »Roten Karen«), famos für ihren masochistischen Halsschmuck.
Schätzungen über die Anzahl verbleibender Padaung gehen weit auseinander. Es wird von 130.000 gemunkelt, andere sprechen von wenigen hundert. Viele Padaung fielen dem Genozid des Militärregimes in den späten Achtzigerjahren zum Opfer. Das Credo des Militärs könnte als »Einigung oder Peinigung« beschrieben werden. Wer sich demnach nicht »einigen« lassen wollte, floh zur thailändischen Grenze. Riesige Flüchtlingslager entstanden. Innerhalb der Flüchtlingslager wurden »Langhals-Zone« errichtet, welche über die Jahre zu einer touristischen Gaudi mutierte. Der Identitätsverlust offenbart sich vor allem in den überlaufenen Bergdörfern Thailands (wie in der Provinz Mae Hong Son), wohin viele Padaung und andere Minderheiten von der Junta verschleppt wurden. Es entstanden »Cultural Villages« wo gleich mehrere Ethnien in Freiluftmuseen zusammengewürfelt und (noch heute) präsentiert werden. Alle Padaung, die nach Thailand kamen, endeten in gekünstelten Menschenzoos und verrichten seither gekünstelte Arbeit. Dasselbe gilt für Myanmar: Faktisch alle Padaung leben in »Cultural Villages«, wie dem einen Kaff nahe Inle-Lake, wo den Schnappschussjägern ein an den Webstuhl gekettetes Padaung-Model vorgeführt wird. Nur ein kümmerlich kleiner Haufen von Padaung konnte ihre Kultur über die Jahrhunderte retten und lebt ein authentisches, ein echtes Leben analog ihrer Vorfahren. Einige von ihnen darf ich heute treffen.

Joseph weist mich zu ihnen. Der Fremdenführer wurde wie die meisten Padaung (und anderen Minderheiten der Region) von christlich italienischen Weltenbummlern konvertiert. Trotzdem bleiben sie Animisten, huldigen Drachen- und Naturgeistern. Die Nats. Diese Geister sind allgegenwärtig, können gehört und gesehen werden.

Neben dem gegebenen Schulstoff lehren die Großmütter und Großväter ihren Enkeln die ethnischen Weisheiten. Der Name »Padaung« bezieht sich auf den Halsschmuck der Frauen. »Pa« lässt sich mit »drumherum« übersetzen und »daung« mit »glänzendes Metall«. Der Brauch der Ringe hat verschiedene Hintergründe. Eine Geschichte besagt, dass die medial unfein betitelten »Giraffen-Frauen« durch die Prozedur des Halsstreckens die Erinnerungen an ihre Drachen- und Schlangenmütter behalten können. Um die Nachkommenschaft zu diesen Geistern visuell auszudrücken, werden die Hälse mit Goldringen so weit gedehnt, bis sie den Hälsen der Schlangen und Drachen ähneln. Andere Erzählungen deuten auf die Ära der Anarchie im Land (vor der Britischen Kolonialisierung), als die Padaung-Frauen von Burmanen verschleppt wurden. Mit den Ringen konnte sich das Volk bei allfälliger Wiedervereinigung einfacher gegenseitig identifizieren. Eine weitere Legende besagt, dass sie ihre Hälse vor Tigern schützen wollten. Und noch eine Anschauung schildert, wie das aus dem chinesischen Hochland migrierte Volk ihre Besitztümer absicherte, indem es sich all das Silber, Gold und Messing einfach um den Hals schnallte. So richtig weiß es heute niemand mehr; fest steht, dass die Tradition bald die letzte Ölung erhält.
Viele Mädchen verzichten auf die schwere Halsrolle. Verständlich, denn der Kult ist eine Tortur. Mit einem Jahr werden die Kinder bereits mit Reiswein genährt, um die Muttermilch abzugewöhnen. Mit zarten fünf Lebensjahren beginnen sie mit dem Umschnallen des tragbaren Familienschreins. Je älter das Mädchen, desto mehr Ringe werden aufgestockt. Bei Heirat werden größere Ringe oben und unten zugefügt. Anfassen ist nur den Familienangehörigen erlaubt, um eine Krankheit zu heilen oder eine Reise zu segnen. Früher drohten untreuen Padaung-Frauen drakonische Strafen, einst erwischt, wurden die Halsringe ratzfatz abgenommen. So mussten sie entweder grotesk ihren Hals auf unbestimmte Zeit mit den Händen stützen oder den Rest ihres Lebens im Liegen verbringen.
Halsringe – Ein kulturelles Erbe am Rande der Existenz
Zurück in Loikaw. Eine Parade aus Kindern verschiedener Ethnien marschiert an mir vorbei. Die Kleinen wurden von ihren Eltern in Tracht gehüllt und mit Kerzen ausgerüstet. Gerade hier und jetzt, in den von Kerzenlicht erhellten Augen der nächsten Generation scheint die Welt unschuldig und in Ordnung. Anders in der direkten Grenzregion zu Thailand, nach wie vor eine Konfliktzone, wo sich radikale Buddhisten und Christen befeinden und sich die ethnische Armee gegen den Ressourcenklau der Regierung wehrt. Es erstaunt kaum, dass die Kleinkinder von Loikaws fahrenden Verkaufsbuden mit Plastik-AK47 und Spielzeug-Raketenwerfer eingedeckt werden.
Das »Tazaungdaing«-Fest in Loikaw
Der Wanderhändler Ryan aus Mandalay feilscht derweil mit einer Kundin – er will 2 Euro für die Jacke, sie offeriert einen Euro. Auch er ein Fremder hier, wir kommen ins Gespräch. Ryan reist von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und verdient sein Geld mit dem Verkauf von Billigklamotten aus China. Wir verabreden uns für morgen, um per Motorrad die wilde Umgebung Loikaws zu erkunden, die endlosen Reisfelder, versteckten Naturseen und geheimnisvollen Höhlen. Letzter Halt des Tages beim »Umbrella Lake«. Ich bin etwas erstaunt, da es offensichtlich nichts zu sehen gibt. Der Tümpelwächter erklärt euphorisch, dass sich an guten Tagen in der Mitte des Beckens ein vulkanogener Minidreckhaufen um bis zu einem Meter (!) aufbäumt. Ich kann mein Amüsement kaum unterdrücken, vor allem weil hier Busse aus Yangon reihenweise Touristen ausspucken. Es wird noch besser. Ryan deutet auf das Verbotsschild neben uns, das vor einem uralten Baum installiert wurde. In burmesischer Schrift verbietet es lüsternen Paaren, sich im Schutz des Baumes weder mit einem Hand-, noch einen Blow-, oder irgendwelchen anderen Jobs zu vergnügen. Kann es denn wirklich sein, dass ein mit Dreck gefüllter Mini-Geysir bei gewissen Menschen feurige Leidenschaft entfacht?

Mit diesen Gedanken, was war, was ist, und was wohl noch kommen mag, ziehe ich weiter in den wilden Westen des Landes.
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Claudio Siebers Buch
In Gestrandet im Paradies erzählt Claudio Sieber, wie er sechs Jahre als Nomade durch Asien zog und seine Heimat auf einer Tropeninsel fand.
Alltag, Karriere, Familie, Freundschaften, Versicherungen und das vorab bezahlte Sockenabo – all das lässt der Schweizer Claudio Sieber zurück, als er sein Leben als Vagabund beginnt. Seit mehr als sechs Jahren lässt er sich als Abenteurer und Journalist durch Asien und Ozeanien treiben, um am Ende auf Siargao zu landen, seinem persönlichen Paradies. Dort angekommen blickt er zurück auf seine Reisen, die er mal zu Fuß, mal per Motorrad und mal auf einem kleinwüchsigen Pferd zurückgelegt hat. Ehrlich und reflektiert erzählt er, wie er die Länder nicht nur abgehakt, sondern ausgekostet hat – und warum es sich lohnt, auf dem Weg zum Ziel auch mal die Seitenstraßen zu nehmen.
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Der Autor
Claudio Sieber
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