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Weckruf der Wildnis

Von einer, die auszog, das (Land)Leben zu lernen: Land oder Leben-Autorin Claudia Heuermann kehrt der Zivilisation den Rücken und zieht in die nordamerikanischen Catskill Mountains.

 

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Ich schob den Kinderwagen über den holprigen Gehweg. Das Baby schrie, und der ältere Bruder quengelte und hatte keine Lust zu laufen. Die Luft war heiß und schwül, die Stadt um uns herum toste, und es stank nach Abgasen und Müll. Ich schwitzte, hechelte, war genervt und machte mir Sorgen. Gerade war die Miete unserer kleinen Wohnung erhöht worden, das Geld war knapp, zu knapp nun für das gute Biogemüse, das ich doch so gerne und gewissenhaft für die Kinder kaufte. Und das jetzt, wo sich gerade die Meldungen über Gift- und Nahrungsmittelskandale in allen Bereichen überschlugen! Dioxin in den Eiern, Antibiotika im Fleisch, Bisphenol A in meiner Babyflasche, und dann das Glyphosat im Babybrei. Ich hielt’s nicht aus!

 

»Wir mussten weg, ganz weit weg!«

Wie nur sollten meine Kinder hier ein gutes, unbeschwertes und gesundes Leben führen? Es war unmöglich! Gefahr lauerte überall! Wie konnten wir hier jemals glücklich, entspannt und zufrieden sein?

Gar nicht, befand ich. Und es konnte nur einen Ausweg geben: Flucht! Wir mussten hier weg! Ganz weit weg. Weg von Dreck und Müll und Gift, weg von Lärm und Stress und jeglicher Gefahr.

Und so hängte ich meinen Beruf als Filmemacherin an den Nagel, verabschiedete mich von allem Gewohnten und stürzte mich mit meinem Mann und unseren beiden Söhnen ins Abenteuer. Im Sommer 2011 wagten wir den Ausstieg, kauften eine 200 Jahre alte Farm in den nordamerikanischen Catskill Mountains und kehrten der Zivilisation den Rücken.

Wo waren wir gelandet?

Von nun an lebten wir ein völlig neues Leben. Umgeben von tiefsten Wäldern, verborgenen Seen und verwunschenen Lichtungen fanden wir uns in einer magischen Welt wieder. Wir brachten das Haus auf Vordermann und bauten einen Selbstversorgerhof auf, mit üppigen Obstbäumen, einem Gemüsegarten, mit zufriedenen Milchziegen und glücklichen Hühnern. Ich baute unsere Nahrung an, lernte das Melken, produzierte meinen ersten Ahornsirup und stellte Joghurt, Käse und Seife her. Das Wasser kam aus einer Quelle neben unserem Haus, und das Holz für den Ofen stammte aus unserem eigenen Wald.

Wir versorgten uns weitgehend selbst und so schien der Traum vom nachhaltigen und freien Leben im Einklang mit der Natur in Erfüllung zu gehen.

Doch schon bald stellte sich heraus, dass das Landleben keinesfalls so einfach, frei und selbstbestimmt war, wie wir gehofft hatten! Zwar waren wir auf wilde Bären, Schlangen und Kojoten – zumindest theoretisch – vorbereitet. Aber wer hätte gedacht, dass es hier Unmengen von kleinen krabbelnden und krankheitsbringenden Zecken gab, die nicht nur im Unterholz, sondern auch auf Türklinken und Fahrradlenkern lauerten? Oder dass die Ziegen von gemeinen Parasiten namens Leberegel und gedrehtem Magenwurm befallen wurden? Was sollten wir mit diesem unscheinbaren Pflänzchen namens Poison Ivy tun, das überall auf dem Grundstück wucherte und bei Berührung zu schwersten Hautverätzungen führte, und wer hätte geahnt, dass wir plötzlich wissen mussten, wie man sich als Hühnerbesitzer verhält, wenn im Land die Vogelgrippe ausbricht und 50 Millionen Vögel dahinrafft? Oh, und den berüchtigten schießwütigen Amerikaner? Es gibt ihn wirklich!

Also, wo waren wir gelandet? Wir wollten doch eigentlich ein friedlicheres, besseres und gesünderes Leben führen. Was war aus dieser Idee geworden? Gefahren lauerten plötzlich überall! Waren wir nicht aus der Stadt geflohen, um jeglichen Gefahren zu entkommen?

Ein ewiger Kreislauf

Nun, jetzt waren Krankheit und Tod allgegenwärtiger als je zuvor. Und letzterer machte dann auch vor den niedlichen, flauschigen Bruderküken nicht halt, denn was sollte aus ihnen werden, nachdem sie aufgezogen und zu kampflustigen Hähnen geworden waren?

Wir schlachteten und aßen sie.

Und was sollte mit unserem süßen Ziegenbock geschehen, den niemand haben wollte? Auch den haben wir schließlich gegessen.

Ist so etwas überhaupt moralisch vertretbar? Oder ist es schlicht grausam, barbarisch und primitiv? Die Gedanken kreisten und ließen mich nicht mehr los. Es war eine einschneidende Erfahrung: Tiere zu töten und zu essen. Zu sehen, wie die Nahrung, die man verspeist, lebte und starb. Und ganz egal, von welcher Seite man es betrachtet – ein Tier zu schlachten ist brutal, vor allem wenn man es selber großgezogen hat. Man kann gar nicht anders, als sich immer wieder mit dem Leben und Sterben auseinanderzusetzen – wobei das ewige Hadern mich schließlich zum Vegetarier werden ließ.

Immer wieder habe ich mich während unserer Zeit in der Wildnis mit den verschiedenen Aspekten des Fleischkonsums befasst, habe mich mit der Jagd beschäftigt, habe über die Ethik und die Moral des Tieretötens nachgedacht, ebenso wie über das Thema der Nutztierhaltung an sich. Denn abgesehen von deren Einfluss auf Klima und Umwelt gibt es keine Eier ohne Bruderküken und keine Milch ohne immer wiederkehrende Geburten von Tierkindern, die dann größtenteils auf der Schlachtbank landen. Das war auch auf unserer kleinen Farm nicht anders, und dass diese Themen und die dazugehörigen Gedanken und Zweifel nun mit solcher Wucht Einzug in meinen Alltag hielten, hatte ich nicht erwartet – auch wenn es vielleicht gar nicht so überraschend ist, dass man dem ewigen Kreislauf aller Dinge eben niemals und nirgendwo komplett entkommen kann.

Auf jeden Traum folgt ein Erwachen

Und so erkannte ich dann letztendlich auch, dass es nicht nur diesen einen Traum gab, sondern dass auf jeden Traum ein Erwachen folgt, welches dann wiederum zum nächsten Traum führt. Zum nächsten Wunsch, zur nächsten Sehnsucht.

Die Zukunft ist immer der nächste Schritt, der manchmal eben ganz woanders hinführt, denn nichts bleibt, wie es ist, alles schreit ständig nach Veränderung – wie auch die Kinder, die inzwischen zu Teenagern geworden waren. Obwohl man für sie dieses Leben ja eigentlich einmal angetreten hatte, langweilten sie sich nun auf dem Land zu Tode. Sie brauchten mehr als die Wildnis, brauchten Perspektiven, und wünschten sich nichts sehnlicher, als ein freies, unabhängiges Leben in der Großstadt.

Denn tatsächlich: Frei und selbstbestimmt ist das Bauernleben nicht. Es wird fremdbestimmt durch die Tiere und Pflanzen, durch deren Rhythmus, durch das Wetter und die Jahreszeiten, durch Parasiten, Krankheiten, Raubtiere, durch Geburten, den Melkplan und den Schlachtplan – und nicht zuletzt durch die Grundbedürfnisse des Menschen selbst. Es ist auch nicht ruhig und friedlich, oder gar entspannend. Nein.

Es ist Maloche ohne Pause, ohne Feiertage oder freie Wochenenden, tagein, tagaus, jahrein, jahraus, egal ob man Lust hat oder nicht, ob es eisig ist und dunkel, schwül und heiß, oder ob man krank darniederliegt. Die Arbeit kann nicht warten. Das Feld muss bestellt, die Ernte eingeholt, die Tiere versorgt und die Ziege gemolken werden. Und sehr geruchsintensiv ist es außerdem, da kann die Großstadtluft gar nicht gegen anstinken!

Land oder Leben?

Nur wenig hat dem Leben in der Wildnis – und der Zeit – letztendlich standgehalten. Ja, sogar die Wildnis selbst hat sich während unserer Jahre dort erheblich verändert. Tagtäglich ächzt und leidet sie unter dem Klimawandel, dem Artensterben, dem neuen Ungleichgewicht und den Plagen, die es mit sich bringt – und es ist keine Besserung in Sicht.

Schreit das alles nicht geradezu nach einem neuen Wunsch, nach einer neuen Sehnsucht, nach einem neuen Traum?

Ich finde schon. Und so waren es nicht nur unser rauer Alltag und meine Erfahrungen und Erkenntnisse, die mich schließlich, nach sieben Jahren in der Wildnis, über einen Neuanfang nachdenken ließen. Es waren viel fundamentalere Fragen und Überlegungen: Wo gehören wir wirklich hin? Jeder Einzelne von uns? Wo ist der Platz, an dem wir am besten wirken – und etwas bewirken – können? Welchen Weg sollen wir einschlagen, um uns mit der Natur, unserer Umwelt, zu arrangieren? Und was können wir tun, um ihr – und damit uns allen – zu helfen?

Alles, was ich während meiner Jahre auf der Farm gelernt und am eigenen Leib erfahren habe, hat nicht nur meinen Blick auf die Landwirtschaft, sondern auch meine Einstellung zum Stadtleben grundlegend und nachhaltig verändert. Und so war dieses Abenteuer nicht nur die größte Herausforderung meines Lebens, sondern auch der größte Schritt, den ich jemals nach vorn gemacht habe.

 

(Alle gezeigten Bilder stammen von Claudia Heuermann.)

 

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Lesen Sie mehr über Claudia Heuermanns spannenden Weg in Land oder Leben. Wie unser Traum von einer Farm in der amerikanischen Wildnis endete.

Buchtrailer der Autorin


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Die Autorin

Claudia Heuermann

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