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Tokio, Baby!

Familienurlaub auf Japanisch

Andreas Neuenkirchen, Autor der Japan-Krimi-Tetralogie rund um Inspector Sato (Yoyogi Park, Roppongi Ripper, Shinigami Games und Yakuza Requiem), nimmt uns mit auf seine Familienreise nach Japan.

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Laut meiner Frau wird unsere Reise der reinste Alptraum, ein veritabler Horrortrip. Dabei geht es nach Japan, und sie ist Japanerin. Sie ist ihrer Heimat verbunden und wird im deutschen Alltag nicht müde, deren Vorzüge aufzuzählen. Generell ist sie also Japanreisen gegenüber alles andere als abgeneigt. Es ist auch nicht so, dass diese spezielle Reise uns an besonders unwegsame, unerforschte oder anderweitig ansatzweise alptraumhafte Orte innerhalb des Landes bringen würde.

Mit dem Baby nach Tokio

Es geht für zwei Monate nach Tokio, Heimatstadt meiner Frau und mein hauptsächliches Reiseziel seit über 15 Jahren, genauer in den südwestlichen Stadtteil Setagaya. Nah genug am Stadtkern, um von den Annehmlichkeiten des Großstadtlebens zu profitieren. Fern genug, um Hektik und Hysterie außen vor zu lassen.

Doch einen Unsicherheits- und Störfaktor gibt es: Wir reisen zum ersten Mal mit Baby. Unsere Tochter Hana ist neun Monate alt, bei unserer letzten gemeinsamen Reise war sie noch obstgroß im Mutterleib und nahm keinem ausgewachsenen Tokioter nennenswerten Platz weg.

Selbstverständlich liegt es uns fern, unser ganz reizendes Töchterchen als Störfaktor zu sehen. Doch meine Frau ist überzeugt, dass der Rest der Stadt es tun wird. Das unbeschwerte, ultramobile, grenzenlose und barrierefreie Lustwandeln mit Kind und Kegel, das wir in München tagtäglich praktizieren, wird laut ihr nicht möglich sein.

Vor Besteigen öffentlicher Verkehrsmittel gehöre der Kinderwagen zusammengeklappt und das Kind auf den Arm genommen (nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge), wo es die ganze Fahrt über zu bleiben habe, ohne Rücksicht auf Reisegepäck oder Einkaufstüten, die da vielleicht auch noch hängen wollen. In Cafés und Restaurants gälte dasselbe, aber das sei nicht so wild, denn die meisten Cafés und Restaurants würden uns mit Kind eh nicht reinlassen.

Die vorbildliche Zusammenklappbarkeit des Kinderwagens sei von so grundlegender Wichtigkeit, dass wir uns extra für Japan einen Zweitwagen zugelegt haben, der noch leichter und noch schmaler zu klappen ist als unser für teutonische Verhältnisse schon recht schlankes und klappbares Modell (das wird Hana eines Tages alles vom Taschengeld abgezogen).

Sollte das Kind allerdings mal in Bus oder Bahn unaufgefordert anfangen zu schreien, hilft alles Klappen nicht. Dann müssen wir das Fahrzeug gesenkten Hauptes bei nächster Gelegenheit verlassen und dürfen erst wieder einsteigen, wenn alle sich beruhigt haben.

Das Baby als Bedrohung der Existenz

Dabei täte gerade Japan gut daran, Kindern und denen, die sie mit sich führen, das Leben eher leichter als schwerer zu machen. Wie ein Omen werden genau am Tag unserer Ankunft die neuesten Geburtenzahlen veröffentlicht: wiedermal Negativrekord, wie seit einigen Jahren jedes Jahr. Gegen Japan ist Deutschland der reinste gemischtgeschlechtliche Kaninchenstall.

Eine Woche später wird bekanntgegeben, man wolle in den nächsten 10 Jahren 42.000 Lehrerstellen streichen, weil nicht mehr genügend kleine Wissbegierige nachkommen. Schwer zu sagen, welcher Umstand als erster eingetreten ist und den anderen nach sich gezogen hat: dass Japan verlernt hat, wie man Kinder macht, oder dass Japan verlernt hat, wie man mit Kindern umgeht.

Sicherlich sind Politik und Wirtschaft gefragt, ein Klima zu schaffen, in dem Mutter- und Vaterschaft als eine Bereicherung und nicht als eine Belastung fürs eigene Leben gesehen wird. Aber auch die Zivilgesellschaft täte gut daran, das öffentliche Baby weniger als Bedrohung ihrer Existenz wahrzunehmen. Es ist schließlich das genaue Gegenteil.

Von der Theorie in die Praxis

Soweit graue Theorie und dunkle Vorahnungen. In der Praxis nehmen uns schon die Flugbegleiterinnen des ANA-Fluges ein wenig die Angst vor dem erwachsenen Japaner an sich. Im Chor quieken sie: »Kawaii!!«, als Hana auf ihren Platz zugesteuert wird, werfen verzückt die Arme in die Luft und vernachlässigen für den Rest des Fluges alle anderen Gäste.

Auf dem Erdboden geht die Nettigkeit gleich weiter. Der Chauffeur des vorbestellten Kindertaxis, landestypisch in dunkler Uniform und weißen Handschuhen, spricht von der Neunmonatigen als Hana-sama, also in der besonders ehrerbietigen Form. Und als die Fahrt beginnt, schwärmt er verträumt: »Mein Sohn ist auch haafu.«

Da ist es, das Wort, das früher oder später fallen musste, und von dem ich nie wusste, was ich davon halten soll. Haafu, nach dem Englischen half, also halb, also halbjapanisch, also nicht ganz. Neigt man zu Überinterpretation, kann man in einem oft so irritierend nationalstolzen Land wie Japan schon mal mutmaßen, dass damit auch gleich eine menschliche Wertminderung um 50 % einhergeht.

Einige betroffene Eltern sind deshalb der Auffassung, ihre Kinder seien eigentlich dabberu, also doppelt. Mir hatte dieser Ansatz immer gefallen, denn es entspricht ja den Fakten: Hana hat fürs erste die doppelte Staatsbürgerschaft, sie ist also richtige Japanerin und richtige Deutsche. Und selbstverständlich bekommt sie die Schrullen beider Kulturen voll und ganz ab, halbe Sachen machen ihre Eltern nicht.

Nun ist der Kindertaxifahrer aber so stolz auf seinen Halbnachwuchs, dass ich ihn nicht gleich sprachpolizeilich verwarnen möchte. Besagter Sohn hat eine philippinische Mutter und geht bereits aufs College, so erfahren wir. Dort hat er sich eine Haafu-Freundin angelacht, ebenfalls japanisch-philippinischen Ursprungs.

Keine bösen Blicke

Der Clou der Geschichte: beide wussten anfangs ihrer Romanze lange Zeit nicht, dass sie diese biografische Gemeinsamkeit teilten. Sie hielten einander für ganz normale Japaner. Was sie ja auch sind.

Nicht jeden Tag kann man sich in die freundliche Sicherheit eines Kindertaxis flüchten. Am nächsten Morgen müssen wir dem Alltag ins Gesicht sehen und weitaus öffentlichere Verkehrsmittel benutzen.

Obwohl wir das schnelle und verletzungsfreie Baby-auf-den-Arm-nehmen-und-Wagen-zusammenklappen in München intensiv und erfolgreich geübt haben, beschließen wir schon beim ersten Ernstfall, uns über die Landesgepflogenheiten hinwegzusetzen und einfach so das Kind im Wagen in den Nahverkehrszug zu schieben, als wären wir doof oder in Deutschland.

Wir wollen erst klappen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Es geht aber anders. In unserem weniger aufgeregten Teil der Megacity ist in den Bahnen viel Platz, wenn man das großzügige Zeitfenster zwischen den morgendlichen und abendlichen Stoßzeiten nutzt.

Wir bekommen keine bösen Blicke. Für uns Eltern hat eh keiner Augen, wenn Hana dabei ist und ihre Charmemaschine anwirft. »Ah, kawaii!«, »Ah, kawaii!«, »Ah, kawaii!« murmelt es durch den ganzen Waggon. Selbst wenn Hana mal im Affekt die Stimme erhebt oder in Momenten elterlicher Unachtsamkeit fremdes Eigentum begrabbelt, erntet sie nichts als Entzücken.

Kinderwägen aus der Zukunft

Wir sind übrigens nicht die einzigen in Babybegleitung. Jede Menge stolze und schicke Mütter (und überraschend viele stolze und legere Väter) sind unterwegs mit offenen Kinderwagen, teilweise regelrechte Mad-Max-Panzer, an denen sich bestimmt nicht viel zusammenklappen lässt. Zwischen den Rush Hours ist Babyzeit. Zwischen den Rush Hours könnte man glauben, Babys machten einen Großteil der japanischen Bevölkerung aus.

In dem Café, in dem wir unser erstes Frühstück einnehmen wollen, spricht uns eine Kundin vom Nebentisch an, als wir ungelenk mit dem Kinderwagen an unserem Tisch herumruckeln: der offizielle Stellplatz sei hinten bei den Toiletten, bitteschön.

Eine schroffe Zurechtweisung, denke ich, auch wenn in freundlichem Wisperton vorgetragen. Schroffer wird’s halt in Japan nicht, zumindest nicht aus weiblichem Munde. Das hatte mich früher öfter irritiert; viele belauschte Gespräche, die ich tonal für freundlichen Smalltalk gehalten hatte, stellten sich als üble Streitereien heraus. Vom Ton wollte ich mich nicht mehr täuschen lassen.

Ich täusche mich, stellt sich heraus. Die freundlich klingende Frau ist tatsächlich freundlich. Es ergibt sich ein freundliches Gespräch über unsere jeweiligen Familien. Sie hat zwei etwas ältere Kinder, was zwar anstrengend sei, aber Hana sei so kawaii, dass sie die direkt auch noch nehmen würde. Und selbstverständlich haben wir mit dem zusammengeklappten Kinderwagen bei den Toiletten viel mehr Platz am Tisch.

Der Exoten-Bonus

Die positiven Erfahrungen setzen sich in den nächsten Tagen fort. Nur einmal wird es buchstäblich eng und wir müssen auf halber Strecke doch noch heben und klappen. Das ist im gut besetzten und gut schaukelnden Zug eine ruppige Angelegenheit, aber alle Beteiligten überleben. Niemand ist böse, nicht mal unter freundlicher Tarnung.

Möglich, dass wir einen Exoten-Bonus haben (ich bin momentan zu guter Dinge, um von »positivem Rassismus« zu sprechen). In der Supermarktschlange spricht eine verzückte ältere Dame aus, was viele hier denken: »Haafu-Kinder haben so eine ganz besondere Schönheit …«

Auch möglich, dass unser Bild vom sorglosen Leben mit Baby in Tokio von unserer unmittelbaren Umgebung geprägt ist. Bislang mussten wir nur selten in die hektische und hysterische Innenstadt. Vielleicht bleiben wir einfach für immer in unserer rosa Blase, in unserer kuscheligen 800.000-Einwohner-Vorstadtidylle. Das urbane Leben wird ja eh überschätzt.

Und bei der Frage nach haafu oder dabberu machen wir es einfach wie bei der Staatsangehörigkeit: soll Hana selbst entscheiden, was sie sein möchte, sobald sie alt genug ist.

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Wenn Andreas Neuenkirchen nicht mit seiner Familie durch Tokio reist, schreibt er Krimis, die fest in der japanischen Kultur verankert sind und so Krimifreunden und Kulturinteressierten gleichermaßen gefallen. Die spannenden Fälle seiner Ermittlerin Inspector Yuka Sato sind bei CONBOOK erhältlich: Yoyogi Park, Roppongi Ripper, Shinigami Games und Yakuza Requiem.


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Der Autor

Andreas Neuenkirchen

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